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Hintergrundbericht

23. Februar 2022

Welche Veränderungen die Pandemie in den Jobcentern anstößt.

Gruppe Alvarez
Quelle: Alvarez / iStock

Vormittags ins Amt und eine Wartemarke ziehen? Diese Zeiten sind in den Jobcentern vorbei. Alle Zeichen stehen auf Erneuerung und Ausprobieren: Es gibt eine Lust auf Neues in der Jobcenter-Welt – und viele Diskussionen der Beteiligten drehen sich um digitale Tools und neue Lösungen für den Beratungsalltag. Lockdowns und Kontaktreduzierung haben auch in den Behörden weitere Reformen angestoßen. Nicht hin zu einem virtuellen Jobcenter, aber zu einem vielschichtigen. Das große Stichwort:

Der Wandel zum hybriden Jobcenter

In den meisten Häusern existieren inzwischen viele parallele Möglichkeiten der Beratung. Vor-Ort-Termine sind nicht mehr alternativlos für den beratenden Kontakt zwischen Leistungsberechtigten und Jobcentern. Sie sind weiterhin wichtig – gerade, wenn es ums Kennenlernen und um Vertrauensaufbau geht. Doch die meisten Jobcenter haben sich flexibler aufgestellt: Sie kommunizieren per Telefon, E-Mail und Videogespräch. Treffen an der frischen Luft ersetzten das Beratungsgespräch im Büro – das Prinzip „Walk and Talk“ fand in der Pandemie immer mehr Anhängerinnen und Anhänger, teils für interne Besprechungen, teils aber auch für Gespräche mit Leistungsbeziehenden. In den Jobcentern entstanden digitale Innovationen: Inzwischen gibt es zahlreiche Jobcenter, die neben ihrem Web-Angebot auch eine App haben – das Beispiel Berlin-Mitte stellt dieser Beitrag vor.

App Mitte
Einige Jobcenter, wie etwa Berlin Mitte, bieten Leistungsberechtigten inzwischen eigene Apps an.

Jobcenter gestalten um und schaffen Warteschlangen ab

In vielen digitalen Angeboten von Jobcentern finden sich inzwischen Buchungsmöglichkeiten: Leistungsberechtigte wählen online ihr Anliegen aus und vereinbaren einen Termin. Einige Jobcenter stellen gar komplett auf den terminierten Betrieb um. Die Geschäftsstelle Sankt Augustin des Jobcenters Rhein-Sieg (Nordrhein-Westfalen) wird sogar extra um dieses Konzept herum gebaut: Leistungsberechtigte bewegen sich nur noch im Erdgeschoss. Sie buchen einen Termin – und ihre Ansprechperson aus dem Jobcenter reserviert vorab eines der Beratungsbüros.

Termine sind jedoch nicht die einzige Strategie gegen Stau in der Eingangszone. Jobcenter bieten digitale Hilfen zur Selbsthilfe an: Das Jobcenter Hildesheim (Niedersachsen) etwa stellte online einen Mietpreisrechner zur Verfügung und versucht die Warteschlange vor Ort abzubauen, indem Terminals zur Selbstbedienung installiert wurden. Sie nehmen etwa Rückrufbitten entgegen und sollen so Wartezeiten vermeiden, sagte Geschäftsführer Ulrich Nehring in einer Zukunftswerkstatt der Servicestelle SGB II: „Vor Corona hatten wir bis zu 800 nicht terminierte Vorsprachen pro Tag und wir waren mit dieser Situation nicht glücklich.“

Sicher ist jedoch: Das persönliche Gespräch ist nicht zu ersetzen und hilft für gegenseitiges Verständnis. Insbesondere auch dann, wenn Sprachbarrieren zu überwinden sind.

Das Telefon als schnelle Alternative

Während des ersten coronabedingten Lockdowns richteten viele Jobcenter Hotlines ein oder bauten ihre telefonische Erreichbarkeit aus. Servicekräfte aus den Eingangszonen wechselten vom Tresen an den Hörer – und für manche geht es auch nach der Pandemie nicht an ihren alten Arbeitsplatz zurück. Jobcenter kommunizieren heute anders. Auch die Erwartungen der Leistungsberechtigten haben sich verändert: Sie wissen, dass sie nicht für jede Rückfrage persönlich ins Jobcenter fahren müssen. Doch nicht jedes Thema ist am Telefon einfach besprochen.

Mann am Telefon
Viele Nachfragen, die Menschen früher vor Ort stellten, erreichen die Jobcenter nun per Telefon. Quelle: Morsa Images / iStock

Digitale Anträge gewinnen an Bedeutung

Vom digitalen Antrag wandern die Daten direkt in die elektronische Akte – dieser papierlose Ablauf wird in immer mehr Jobcentern Realität. Seit 2019 sind Weiterbewilligungsanträge und Veränderungsmitteilungen über jobcenter.digital online möglich. Die Bundesagentur für Arbeit entwickelt das Projekt weiter – in enger Abstimmung mit Jobcentern und einem Ohr für die Bedürfnisse der Nutzerinnen und Nutzer. Immer mehr Funktionen werden freigeschaltet. Auch in den kommunalen Jobcentern werden digitale Anträge wichtiger. Das Jobcenter Job-Com im Kreis Düren (Nordrhein-Westfalen) startete im März 2020 seinen digitalen Neuantrag. Nach rund einem Jahr gingen 85 Prozent der Neuanträge digital ein, berichtete Leiter Karl-Josef Cranen in einer Veranstaltung des Deutschen Vereins zu Corona-Lehren.

Videokommunikation kommt, um zu bleiben

Millionen Beschäftigte wechselten vom Büro ins Homeoffice. Die Videokommunikation wurde für Besprechungen zum neuen Standard – und bleibt ein bevorzugtes Mittel der Kommunikation. Das gilt ebenso für viele Jobcenter-Mitarbeitende – und teils auch für Besprechungen mit Leistungsberechtigten. Einige Jobcenter sprangen während der Pandemie einfach ins kalte Wasser und sammelten Erfahrungen. Das Jobcenter Osnabrück (Niedersachsen) etwa begann im Frühjahr 2020 mit der Ausbildungs- und Berufsberatung per Video.

Speziell in ländlichen Regionen gibt es unter den Leistungsberechtigten aber auch eine gewisse Zurückhaltung. „Wir sind nicht Hamburg oder München, wo die Offenheit für Digitales so groß ist“, berichtete etwa Markus Weidel, Geschäftsführer des Jobcenters Jerichower Land (Sachsen-Anhalt). Auch schnelles Internet ist längst nicht überall selbstverständlich – und ob Leistungsberechtigte über WLAN zu Hause und funktionierende Geräte verfügen, ist die nächste Frage. Manchmal siegt die Gewohnheit, sagte Ursula König vom kommunalen Jobcenter Ostalbkreis (Baden-Württemberg): „Viele haben doch lieber schnell zum Telefon gegriffen, als diese neue Möglichkeit auszuprobieren.“ Bedenken wegen des Datenschutzes gibt es seitens der Leistungsberechtigten eher selten. Doch mit Blick auf geltende Gesetze können Jobcenter längst nicht auf alle Tools zurückgreifen, die in der Bevölkerung verbreitet sind. Das kommunale Jobcenter Landkreis Ravensburg entschied sich deshalb, etwas unkonventionell, für eine deutsche Plattform, die ansonsten etwa Banken und Versicherungen für Kundenkontakte nutzen.

Auch intern lernten einige Jobcenter das flexible Gespräch per Computer zu schätzen. Im kommunalen Jobcenter des Landkreises Spree-Neiße (Brandenburg) liegt bis zu eine Stunde Fahrzeit mit dem Auto zwischen den Standorten – oder eben ein Klick. Sich persönlich vor Ort zu treffen, sei zwar Nonplusultra, sagte Jobcenter-Leiterin Sandra Kattwinkel. „Aber wir werden weiter die Möglichkeit nutzen, uns schnell und spontan in einem Meeting per Video zu treffen.“

Videokonferenz
Intern im Team und extern mit Leistungsberechtigten: Videokommunikation bleibt den Jobcentern langfristig erhalten.

Homeoffice und flexible Arbeitsmodelle

Digitale Kommunikation fördert auch die Möglichkeit, unabhängig vom Ort zu arbeiten. Auch immer mehr Jobcenter-Mitarbeitende nutzen deshalb das Homeoffice – nicht, weil sie es aufgrund von Kontaktbeschränkungen müssen, sondern weil sie es so wollen. Jobcenter bundesweit haben während der Pandemie gesehen: Sie bleiben leistungsfähig, auch wenn ein großer Teil der Mitarbeitenden von zu Hause arbeitet. Das Jobcenter Rhein-Sieg etwa bietet ganz besondere Flexibilität: Laut Dienstvereinbarung können alle künftig zu 50 Prozent von zu Hause arbeiten. Jobcenter-Geschäftsführer Ralf Holtkötter schaut auf die Ergebnisse, nicht auf Anwesenheit, wie er im Interview beschrieb: „Nicht jeder, der lange auf einen Bildschirm schaut, arbeitet automatisch erfolgreich.“

Soziale Distanz, aber Nähe zu Leistungsberechtigten wächst

Allen Einschränkungen in der Pandemie zum Trotz waren die Jobcenter-Mitarbeitenden für die Leistungsberechtigten da. Laut Umfragen ist die Kundenzufriedenheit vielerorts gestiegen – womöglich auch, weil Jobcenter mit der Zeit gingen und auf viel mehr Wegen erreichbar waren. Teamleiterin Michaela Ludwig aus dem Jobcenter Northeim (Niedersachsen) sagte in einem Gespräch, dass andersherum aber auch ein Jobcenter aktiv werden und Menschen zurückgewinnen müsse: „Immer dranbleiben, mehrfach anrufen, neue Wege finden. Wir geben niemanden auf.“ Anna Funk aus dem kommunalen Stuttgarter Jobcenter (Baden-Württemberg) ergänzte, dass es meist positiv bei Leistungsberechtigten ankomme, wenn sich das Jobcenter bemüht. „Wir laden Menschen, die wir lange nicht erreichen, in Gruppen zu Workshops ein.“

Vielen Jobcentern wurde in der Sondersituation der Pandemie klar, dass es manchmal schnelle und pragmatische Lösungen braucht. So entwickelte das Jobcenter Dortmund (Nordrhein-Westfalen) 2020 eine völlig neue Website, die stark aus der Perspektive der Nutzenden gedacht ist – reduziert auf wichtige und verständlich aufbereitete Informationen. „Wir sammeln, was die Menschen suchen, welche Begriffe sie umgangssprachlich im Kontext Jobcenter verwenden und können dementsprechend unsere Texte ergänzen“, erläuterte Pressesprecherin Vitalia Seidel in einer Dialogwerkstatt der Servicestelle SGB II. Solche Bemühungen um digitale Innovationen kommen gut an, stellt auch die Bundesagentur für Arbeit fest: Eine Mehrheit findet digitale Beratung gut, beziehungsweise schätzt sie als gute Ergänzung zu bestehenden Beratungsformaten.

Jobcenter Dortmund
Schick und funktional: Das Jobcenter Dortmund begrüßt Website-Besucherinnen farbenfroh und in verständlicher Sprache.

Bedarf für Bildung zu digitalen Themen ist groß

Digitalisierung ist weit mehr als eine Excel-Schulung – auch das hat die Pandemie vielen vor Augen geführt. Sowohl Jobcenter-Mitarbeitende als auch Arbeitsuchende müssen heute bereit sein, spontan den Umgang mit neuen Plattformen zu lernen. Dafür braucht es Mut und die nötige Selbstsicherheit. Daran mangelt es, unabhängig vom Alter, berichtete Leistungssachbearbeiter Jonas Meironke aus Berlin-Lichtenberg im Interview: „Wir haben 25-Jährige, die jobcenter.digital nicht bedienen können und lieber persönlich vorbeikommen.“ Das kommunale Jobcenter Vorpommern-Rügen (Mecklenburg-Vorpommern) erfuhr aus einer Befragung der Leistungsberechtigten, dass die Stimmung geteilt ist: „Mehr als die Hälfte will mit uns nicht digital zusammenarbeiten“, sagte Karin Kaehlert, Projektleiterin Digitalisierung. „Aber die andere Hälfte will das – und insbesondere das ist für uns ein gutes Ergebnis.“

Viele Jobcenter machen sich Gedanken, wie sie alle Mitarbeitenden auf die digitale Reise mitnehmen und zugleich ihre Leistungsberechtigten ermutigen. Das Jobcenter München (Bayern) legt einen Schwerpunkt auf Weiterbildung in digitalen Kenntnissen. Arbeitsvermittlerin Madlen Körner sagte: „Uns ist wichtig, den Menschen die Angst vor Technik zu nehmen. Wer nicht aktiv im Berufsleben steht, hat manchmal sogar Hemmungen, eine E-Mail zu schreiben.“ Dabei können digitale Tools gerade für Menschen mit Behinderungen eine große Hilfe sein. Davon berichtete Felix Baumeier im Interview. Der Leiter des Kommunalen Jobcenters Landkreis Leipzig (Sachsen) ist hochgradig schwerhörig und sagt: „Besonders gerne fördere ich deshalb jetzt Videokonferenzen. Hier müssen alle nacheinander sprechen.“

Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales wird die Veränderungen weiterhin aktiv begleiten und mit den Jobcentern dazu im Austausch bleiben. Lesen Sie hierzu auch die Dokumentation der Workshop-Reihe „Lessons Learned aus Corona“.

Artikel zum Wandel in den Jobcentern bei sgb2.info