Dass dieser junge Mann nach über vier Jahren wieder den Mut gefunden hat, sich an einer Schule anzumelden, ist ein Erfolg. Devin ist 21 Jahre alt und hat eine soziale Angststörung. Mehrere Jahre vermied er es, vor die Tür, zur Schule, zur Arbeit oder ins Jobcenter zu gehen. Ich habe Angst wenn ich unter Menschen bin, davor, was sie von mir denken oder davor, dass mir etwas Peinliches passiert
, fasst Devin es zusammen. Carina Palm, Sozialcoach beim Projekt RESPEKT! in der Städteregion Aachen, begleitet den jungen Mann schon seit gut einem Jahr. Ihre Aufgabe ist es „entkoppelte“ - das heißt aus sämtlichen institutionellen Kontexten herausgefallene Jugendliche - zu finden und ihnen zu helfen, ihre persönliche Lebenssituation zu stabilisieren. Devin erzählt: Die Bindung zu Frau Palm stimmt! Ich vertraue ihr, wenn sie mir neue Wege aufzeigt.

Offene Ohren finden für die persönlichen Probleme
Das Projekt RESPEKT! läuft auf der Plattform der Jugendberufsagentur der Städteregion Aachen im Trägerverbund mit dem Sozialwerk Aachener Christen e.V. und dem Verein für allgemeine und berufliche Weiterbildung e.V. Es ist eines von bundesweit 18 Pilotprojekten, die im Rahmen des Bundesprogramms RESPEKT für schwer zu erreichende Menschen gefördert werden. Es möchte solchen Jugendlichen zwischen 15 und 25 Jahren wieder Zugang zum Bildungs- und Hilfesystem der Städteregion verschaffen, die sich weder in Schule, Ausbildung oder Erwerbsarbeit befinden, noch kontinuierlich SGB II-Leistungen in Anspruch nehmen und oftmals keinen festen Wohnsitz haben. Zehn Sozialcoaches kümmern sich zeitgleich um insgesamt 200 Jugendliche. Die Nachfrage ist sehr hoch! Daher wurde bei beiden Trägern unter anderem eine ‚offene Sprechstunde’ eingerichtet
, erläutert Dr. Simone Pfeiffer-Bohnenkamp, Geschäftsleiterin des Sozialwerks Aachener Christen e.V. Sie bietet den Jugendlichen und anderen Ratsuchenden ein erstes unverbindlichen Angebot, frei von jedweder Verpflichtung. Es ist dazu kein vorheriger Anruf, keine Anmeldung notwendig, es sind keine Hürden zu überwinden. Die Jugendlichen müssen nichts preisgeben, sondern können auch nur Informationen abfragen und bekommen bei Bedarf eine schnelle erste Hilfestellung.
Die Arbeitsschwerpunkte sind das Case Management, die aufsuchende Arbeit sowie die Netzwerkarbeit. Viele der teilnehmenden Jugendlichen sind aufgrund psychischer Beeinträchtigungen nicht in der Lage, selbst niedrigschwellige Angebote anzunehmen und benötigen eine sehr enge – teils stationäre – Anbindung.

Abseits gewohnter Pfade neue Perspektiven schaffen
Als ich Devins Akte vom Jobcenter übermittelt bekam, versuchte ich zunächst schriftlich mit ihm Kontakt aufzunehmen, doch alle vorgeschlagenen Kennlerntermine wurden von seiner Mutter abgesagt. Also rief ich bei ihm zuhause an und sie erklärte mir, dass ihr Sohn keine Termine außerhalb wahrnehmen könnte. Da wir uns gut verstanden, einigten wir uns auf ein erstes Kennenlernen zu Dritt in vertrauter Umgebung
, erklärt Carina Palm ihre ersten Schritte. Auch Jürgen Wiemer, ebenfalls Sozialcoach bei RESPEKT! weiß zu berichten: Für uns ist es schon ein Erfolg, wenn man es schafft eine neue Kundin oder einen neuen Kunden zu erreichen. Meist sind es Wege abseits der gewöhnlichen Strukturen, die dazu führen
. Neben ihm sitzt die 18-jährige Valerie. Die frisch gebackene Abiturientin erzählt: Dass ich mein Abitur geschafft habe, verdanke ich Herrn Wiemers Unterstützung.
Ihre Mutter verließ vor wenigen Monaten Valerie und ihren Bruder. Da sie keine Miete zahlte, wurde die Wohnung der Geschwister zwangsvollstreckt. Sie konnten zwar bei ihrem Vater und seiner neuen Familie unterkommen, jedoch war das keine Lösung auf Dauer und Valerie brauchte Zeit und Ruhe, um sich auf die Prüfungen vorzubereiten. Ich habe mit der Schule gesprochen, damit sie nach dem Unterricht im Klassenraum bleiben konnte um in Ruhe zu lernen
, schildert der Sozialcoach. Als nächstes wird er Valerie darin unterstützen, eine Wohnung zu finden und ihre berufliche Perspektive zu planen, auch ein Studium kommt infrage.

Unterstützung über Rechtskreise und Kommunen hinweg
Nicht nur Valerie sucht dringend eine eigene Unterkunft. Der Aachener Wohnungsmarkt ist angespannt, das zeigt sich auch in der hohen Wohnungslosigkeit unter den Teilnehmenden von RESPEKT!. Gerade bei der oft frustrierenden Suche nach Wohnungen, Therapie- oder Ausbildungsplätzen und in Zeiten vieler Rückschläge finden die Jugendlichen Unterstützung durch das Projekt. Die Jugendberufsagentur ermöglicht eine transparente Kommunikation und Vernetzung über eine Fläche und die schiere Anzahl der Partner in zehn Kommunen hinaus, sowie die Freiheit, rechtskreisübergreifend zu arbeiten
, erklärt Jonas Paul vom Bildungsbüro der Städteregion Aachen. Die Jugendlichen und Netzwerkpartner profitieren von der Offenheit und Kreativität der Lösungsansätze, vor allem aber von der unbegrenzten Dauer der Hilfen. Es kann im Tempo der Klientin oder des Klienten gearbeitet werden, um eine nachhaltige und langfristige Anbindung zu erreichen
. Kerstin Schäfer, Projektleiterin für RESPEKT! im Jobcenter Städteregion Aachen bestätigt: Bei der Unterstützung junger Menschen ist die rechtskreisübergreifende Arbeit ein sehr wichtiger Faktor, weil die Hilfen – unabhängig von den Zuständigkeiten – auf direktem Wege ankommen.
Das Jobcenter ist der größte Bedarfsträger und kann direkt in das Projekt übermitteln. Schon in der Vergangenheit wurde zwischen dem Jobcenter, den Kommunen und den beiden Bildungsträgern eng zusammengearbeitet. Innerhalb der Städteregion besteht ein sehr hoher Standard in der Zusammenarbeit. Jeder Träger stimmt darin überein, dass das Wohl der Kundinnen und Kunden im Mittelpunkt stehen sollte und nicht individuelle, trägerbezogene Interessen. Dabei ergab sich auch immer eine gewisse Flexibilität in der Verteilung von Aufgaben und Verantwortung, frei nach dem Motto ‚Erlaubt ist, was hilft’. Die Jugendberufsagentur ist die logische Konsequenz einer Kultur, die in der Städteregion Aachen schon vorher gelebt wurde
, fasst Kerstin Schäfer es zusammen. Das Ziel dieser Kooperation ist klar: Kein junger Mensch soll auf dem Weg in Ausbildung oder Studium verloren gehen.
Der Traum von einem ganz normalen Leben
Während der Zeit im Projekt öffnen sich die Jugendlichen zunehmend und erzählen von ihren Wünschen für die Zukunft. Die entkoppelte Lebensweise der teilnehmenden Jugendlichen steht diametral zu dem eigentlichen Wunsch vieler Teilnehmerinnen und Teilnehmer nach einem ‚bürgerlich-normalen’ Leben
, berichtet Simone Pfeiffer-Bohnenkamp Frage ich sie nach ihren Träumen, erzählen sie mir von einem Haus und Familie.
Devins Wünsche sind auch klar, er möchte Sport machen und noch etwas abnehmen, bevor er im Sommer wieder mit der Schule anfängt – Und wieder Bus zu fahren, das würde ich gerne auch noch schaffen
, ergänzt er.