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Expertengespräch: Dipl.-Psychologe Jürgen Schramm

1. April 2019

Schnelle Hilfe ist für Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen nicht nur bei Betriebsunfällen mit körperlichen Verletzungen wichtig, sondern auch nach psychisch extrem belastenden Ereignissen. Dipl.-Psychologe Jürgen Schramm bildet im Auftrag der Unfallkasse Bund und Bahn betrieblich psychologische Ersthelfende aus und begleitet auch Jobcenter, die betriebliche psychologische Erste Hilfe (bpE) einführen. Im Gespräch erklärt er, was psychologische Erstbetreuerinnen und -betreuer leisten können, und welche Rolle die Führungskräfte dabei spielen sollten.

Porträtfoto Jürgen Schramm. Er ist ein älterer Herr mit kurzen grauen Haaren und lächelt.

Servicestelle SGB II: Herr Schramm, warum braucht man psychologische Erste Hilfe?
Jürgen Schramm: Es ist wichtig, Betroffenen von psychisch extrem belastenden Ereignissen möglichst zeitnah fachlich angemessene Hilfe und Unterstützung anzubieten, um mögliche langfristige negative Folgen wie psychische Erkrankungen oder auch Arbeits- und Berufsunfähigkeit zu vermeiden. Während Betroffene bei körperlichen Verletzungen einen Durchgangsarzt aufsuchen müssen, der sich die Verletzung – etwa einen ausgerenkten Arm – anschaut und behandelt, kann man psychische Belastungen dagegen nicht sehen, oft tauchen sie auch erst verzögert auf. Da sagt man leicht: Das habe ich auch schon erlebt, stellen Sie sich nicht so an. Die Folgen solcher Erlebnisse hängen aber stark davon ab, welche Vorerfahrungen jemand in seinem Leben gemacht hat und wie er oder sie und insbesondere auch das soziale und betriebliche Umfeld mit dem Ereignis umgeht. Daher ist es wichtig, alle Beschäftigten, insbesondere aber auch die Führungskräfte für das Thema psychologische Erste Hilfe zu sensibilisieren.

Servicestelle SGB II: Was können Erstbetreuende nach einem belastenden Ereignis leisten?
Jürgen Schramm: Nach psychisch belastenden Ereignissen reagieren Betroffene oft mit Angst, Hilflosigkeit und Kontrollverlust. Erstbetreuende sollten zeitnah Verständnis und Mitgefühl zeigen. Sie sollten signalisieren, dass alle Stressreaktionen normale – das heißt angemessene – Reaktionen auf ein unnormales Ereignis sind. Dabei ist es wichtig, so früh wie möglich zu intervenieren. Außerdem ist es hilfreich, die Betroffenen möglichst vom Ort der belastenden Situation zu entfernen, also einen „sicheren Ort“ aufzusuchen, um dort in einem behutsamen Gespräch zu erfahren, was für die Betroffenen jetzt hilfreich wäre, und sie auch vor möglichen Kurzschlussreaktionen zu bewahren. War das Erlebnis extrem, geht es auch darum, die Betroffenen nicht alleine zu lassen, gegebenenfalls nach Hause zu begleiten und dann vor Ort zu bleiben, falls das notwendig ist. Die zweite wichtige Aufgabe von Erstbetreuenden ist, zu veranlassen, dass das Ereignis dokumentiert wird, dass wenn nötig ein Durchgangsarzt aufgesucht wird und dass eine Unfallmeldung an die jeweilige Unfallkasse mit dem Vermerk „Arbeitsunfall – psychisch belastendes Ereignis“ gesendet wird.

Servicestelle SGB II: Warum ist die Unfallmeldung sinnvoll?
Jürgen Schramm: Die Unfallkassen übernehmen die Versorgung nach psychisch belastenden Ereignissen am Arbeitsplatz und vermitteln zeitnah psychotherapeutische Gesprächsangebote zur weiteren Stabilisierung und Bedarfsklärung. Unfallmeldungen sind auch deshalb wichtig, weil die Folgen belastender Ereignisse oft zeitverzögert auftreten. Ist der Vorfall nicht aktenkundig, ist eine spätere Diagnose nicht möglich und damit ist die Unfallkasse nicht mehr zuständig.

Servicestelle SGB II: Gibt es einheitliche Standards, an denen sich Jobcenter bei der psychologischen Ersten Hilfe orientieren können?
Jürgen Schramm: Hier hat sich in den vergangenen Jahren viel getan. Die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung (DGUV) hat Ende 2017 neue Grundsätze und Leitlinien veröffentlicht. Darin ist geregelt, wie man das Thema in der Organisation verankert, wie man bei belastenden Ereignissen vorgeht und wie man die Ausbildung für die betriebliche psychologische Erstbetreuung regelt. Diese Leitlinien sind nicht verpflichtend, aber Schulungen, die sich daran orientieren, werden von der DGUV bis zu 70 Prozent bezuschusst. Der zwei- bis dreitägige Grundlehrgang der Berufsgenossenschaft Bund und Bahn zum Beispiel ist für die dort versicherten Dienststellen sogar kostenlos. Wenn sich Jobcenter an diesen Leitlinien orientieren, hat das auch den Vorteil, dass alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nach einheitlichen Standards arbeiten, auch über Standorte hinweg. Das kann sehr hilfreich sein. Denn oft sind psychologische Erstbetreuerinnen und -betreuer selbst betroffen, wenn sie mit dem umgehen müssen, was andere belastet. Und dann müssen Kolleginnen und Kollegen von einem anderen Standort herbeigerufen werden.

Servicestelle SGB II: Was müssen Jobcenter bei der Umsetzung solcher Konzepte noch beachten?
Jürgen Schramm: Es geht darum, das Thema in der Organisation zu verankern. Dazu gehört, dass die Erstbetreuerinnen und -betreuer überhaupt bekannt gemacht werden. Gerade niedrigschwellige Ereignisse werden leicht übersehen. Daher ist es sinnvoll, wenn die Kolleginnen und Kollegen wissen, an wen sie sich wenden müssen. Eine ganz entscheidende Rolle kommt außerdem den Führungskräften zu. Das Verhalten der Vorgesetzten spielt eine große Rolle dabei, welche Folgen eine Krisensituation für die Betroffenen hat. Leider haben viele dieses Thema in der Praxis noch nicht auf dem Schirm.

Servicestelle SGB II: Wie können Führungskräfte und Teamleitungen auf diese Aufgabe vorbereitet werden?
Jürgen Schramm: Grundsätzlich halte ich es für sinnvoll, alle Führungskräfte in gesundheitsgerechter Mitarbeiterführung zu schulen. Das geht über den Umgang mit konkreten Krisensituationen hinaus und umfasst auch Fragen der Prävention oder zum Beispiel des Umgangs mit alkoholabhängigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Aber das einfachste ist sicher, interessierten Beschäftigten der Jobcenter die Teilnahme an einem Grundlehrgang zu raten – und dabei die Leitung ausdrücklich mit anzusprechen. Führungskräfte müssen und sollten auch nicht Erstbetreuende sein, aber wenn sie eine Schulung mitgemacht haben, wissen sie aus erster Hand, worum es geht. Am besten ist es daher, wenn Teamleitungen und angehende Erstbetreuende zusammen zur Schulung fahren. Dann haben sie eine gemeinsame Wissensbasis und sprechen die gleiche Sprache.

Weiterführendes

DGUV Grundsatz 306-001 – Traumatische Ereignisse – Prävention und Rehabilitation (Oktober 2017)

DGUV Information 206-023 – Standards in der betrieblichen psychologischen Erstbetreuung (bpE) bei traumatischen Ereignissen (Oktober 2017)

Psychische Gesundheit in der Arbeitswelt – ein Angebot der Initiative Neue Qualität der Arbeit