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Chance auf ein unabhängiges Leben

Seit neun Jahren bemüht sich Dr. Marion Lillig im Rahmen von IvAF um die Arbeitsmarktintegration von Menschen mit unsicherem Aufenthalt. Die Servicestelle SGB II hat mit ihr gesprochen.

junge Frau und andere junge Menschen
Junge, unverheiratete Frauen sind hochmotiviert, sie sehen hier ihre Chance auf ein unabhängiges Leben und sind bereit, viel dafür zu investieren. Quelle: Quelle: iStockphoto

Servicestelle SGB II: Frau Dr. Lillig, Sie sind im Rahmen von IvAF aktiv und betreuen geflüchtete Menschen. Wie finden geflüchtete Frauen zu Ihnen?

Dr. Marion Lillig: Meine Aufgabe innerhalb eines Teams ist es, geflüchtete Menschen anzusprechen, mir einen Eindruck der Person zu machen und sie dann in individuelle Fördermaßnahmen einzubinden. Aktuell sind das in erster Linie Frauen und Männer aus den fünf Herkunftsländern mit sicherer Bleibeperspektive, wir beraten und vermitteln jedoch auch Menschen aus anderen Ländern.
Dafür gehe ich beispielsweise in die Flüchtlingsheime und nehme einen ersten Kontakt auf. Ebenso häufig finden die Menschen aber auch über ehrenamtliche Begleiterinnen und Begleiter zu mir, da ich zahlreiche Schulungen im Rahmen des Freiwilligenengagements anbiete. Mittlerweile ist unser Projekt in der Emscher-Lippe-Region so bekannt, dass die Menschen auch von sich aus zu mir finden.

Servicestelle SGB II: Bieten Sie auch Projekte speziell für weibliche Geflüchtete an?

Dr. Marion Lillig: Das vom Bundesarbeitsministerium finanzierte IvAF-Projekt ELNet-plus zur Arbeitsmarktintegration von Geflüchteten, dessen Mitarbeiterin ich bin, sieht zunächst keine spezifischen Programme für weibliche Geflüchtete vor. Jedoch verfügen wir über reichlich gewonnene Erfahrung aus Vorgängerprojekten, die nun in die Arbeit einfließt. Grundsätzlich kommen jedoch mehr Männer zu uns, was auch der Verteilung männlich/weiblich des Gesamtpersonenkreises entspricht, nur etwa 20 Prozent der Teilnehmenden in unseren Projekten sind weibliche Geflüchtete.

Servicestelle SGB II: Sie konnten bereits viele Erfahrungen beim Umgang mit geflüchteten Frauen sammeln. Wie erleben Sie die Frauen, nachdem sie ihre ersten Wochen bzw. Monate in Deutschland verbracht haben?

Dr. Marion Lillig: Ich konnte beobachten, dass viele der Frauen erst längere Zeit benötigen, um sich in Deutschland zu orientieren. Sie sind müde von der Flucht und haben erst einmal das Bedürfnis nach stabilen Alltagsgrundlagen wie einer Wohnung und Schulplätzen für die größeren Kinder. Mütter legen großen Wert auf die Bildung ihrer Kinder, manche stellen dahinter ihre eigenen Bedürfnisse zurück. Sie sehen sich eher als „verlorene Generation“. Sind die Kinder jedoch versorgt, erlebe ich die meisten als ausgesprochen motiviert, besonders, wenn sie erst seit kurzem in Deutschland sind. Eines ist mir jedoch aufgefallen: Früher oder später lässt bei allen Frauen die erste, große Euphorie nach, die Anfangsenergien sind aufgebraucht. Das erlebe ich bei ihnen wie einen emotionalen Einbruch. Dann müssen sie aufgefangen werden und diese Zeit der "Revitalisierung" muss im Unterstützungsprozess mit eingeplant werden.

Servicestelle SGB II: Wo liegt die Motivation der Frauen?

Dr. Marion Lillig: Junge, unverheiratete Frauen sind hochmotiviert, sie sehen hier ihre Chance auf ein unabhängiges Leben, einen beruflichen Neustart und sind bereit, viel dafür zu investieren. Ich erlebe, wie sie sich gegenseitig coachen und unterstützen, weil sie sehen, dass sie etwas für sich erreichen können. Selbstständig für sich sorgen zu können hat für sie einen hohen Stellenwert.

Frau mit Kopftuch
Es hat sich gezeigt, dass Frauen auffällig schnell lernen, sie stellen Fragen und üben fleißig. Quelle: Quelle: iStockphoto

Servicestelle SGB II: Trifft das auch auf verheiratete Frauen und Mütter zu?

Dr. Marion Lillig: Dort ist die Situation etwas anders gelagert. Obwohl auch sie ebenfalls sehr motiviert sind, gilt ihre Sorge in erster Linie der Familie. Erst wenn dort alle gut versorgt sind, wenn die Kinder in einer Kita oder bei einer Tagesmutter betreut werden, sind sie bereit, an ihre berufliche Zukunft zu denken. Die Frauen brechen alles ab, wenn sie ihre Kinder nicht gut versorgt wissen. Im Zweifel fahren sie dann früher nach Hause, um das Mittagessen zu kochen, als an einer Maßnahme bis zum Nachmittag teilzunehmen. Die Ehemänner sind an dieser Stelle übrigens keine Stütze, sie kommen für die Kinderbetreuung nicht in Frage (Ausnahmen bestätigen die Regel). Aber dieses tradierte Rollenverhalten wird von Ehefrauen öffentlich nicht thematisiert, darüber würden sie im Jobcenter nie sprechen. Ihnen ist die Situation peinlich. Stattdessen geben sie andere, für uns nicht wirklich nachvollziehbare Gründe an.

Servicestelle SGB II: Wo sehen Sie besondere Herausforderungen?

Dr. Marion Lillig: Häufig ist geflüchteten Frauen nicht bewusst, dass für viele Berufe in Deutschland eine Ausbildung erforderlich ist. Das kennen sie nicht aus ihrem Herkunftsland. Sie haben beispielsweise Lust, mit Kindern oder in der Pflege zu arbeiten. Dass man dafür jedoch eine Ausbildung oder ein Studium braucht, und dafür wiederum weitere Bildungsvoraussetzungen, überrascht sie. Hier ist noch viel Aufklärungsarbeit erforderlich, solche Informationskurse können auch gute Ansatzpunkte in den Jobcentern sein.

Servicestelle SGB II: Statistiken besagen, dass Frauen im Durchschnitt geringere Qualifikationen mitbringen als Männer. Welche Möglichkeiten haben geflüchtete Frauen, wenn sie über keine oder nur über eine sehr geringe Bildung verfügen?

Dr. Marion Lillig: Es gibt dafür sehr unterschiedliche Ansatzpunkte. Grundsätzlich prüfen wir erst einmal, welche Sprachfähigkeit vorhanden ist und vermitteln dann in entsprechende Kurse. Wenn die Frauen nicht lesen und schreiben können, benötigen sie Alphabetisierungskurse. Diese können bei Bedarf auch in Integrationskursen angeboten werden. Leider gibt es aktuell insgesamt viel zu wenige Alphabetisierungskurse. Wir haben bei diesen aber interessante Beobachtungen gemacht: Es hat sich gezeigt, dass Frauen auffällig schnell lernen, sie stellen Fragen und üben fleißig. Männern dagegen ist ihre Situation aus ihrem Rollenverständnis heraus peinlich, sie leiden an Statusverlust. Deshalb versuchen sie Schwächen zu verbergen und das behindert den Lernfortschritt. Wir haben in diesem Feld deshalb gute Erfahrungen mit reinen Frauen- und Männerkursen gemacht. Generell befürworte ich jedoch keine Geschlechtertrennung für Maßnahmen.
Eine weitere Beobachtung ist, dass Frauen durch Fleiß und starken Willen fehlende Schulbildung aufholen können. Wir brauchen an der Stelle jedoch schulische Angebote für Geflüchtete über 18 Jahre, da dann die Schulpflicht endet. Einige Bundesländer bieten bereits Beschulungsmöglichkeiten bis 25 Jahre an. Ohne in Deutschland anerkannte Abschlüsse ist ein Einmünden in Ausbildung aber so gut wie aussichtslos. Hier ist viel Potenzial zu heben, doch die Bildungspolitik tut sich schwer. An diesem "Meilenstein" arbeiten wir unermüdlich und wünschen uns Lobbyarbeit von allen Arbeitsmarktakteuren.

Servicestelle SGB II: Nicht allen Frauen mangelt es an Qualifikation, viele bringen auch Hochschul- oder Berufsabschlüsse mit. Wie groß ist das Interesse bei den Frauen, eine qualifizierte Tätigkeit aufzunehmen?

Dr. Marion Lillig: Das sind tatsächlich nicht wenige Frauen. Und häufig sind sie höher qualifiziert als ihre Ehemänner. Einstufungstests an der Abendrealschule haben ergeben, dass zahlreiche Frauen aus Syrien und dem Iran über exzellente Mathematik-Kenntnisse verfügen, darüber hinaus sind sie auch oftmals technikaffin. Damit bringen sie gute Voraussetzungen für den naturwissenschaftlichen Bereich mit. Sie sind an MINT-Berufen interessiert oder darin ausgebildet und haben den Wunsch, entsprechend ihrer Qualifikation zu arbeiten. Eine Arbeit beispielsweise in haushaltnahen Dienstleistungen, die sie auch ohne größere Sprachkenntnisse schnell aufnehmen könnten, ist für sie nicht interessant, eher ein Affront.

Servicestelle SGB II: Wie ist das mit der Anerkennung der Bildungsabschlüsse, stellt das eine große Hürde für die Frauen dar?

Dr. Marion Lillig: Hier gibt es tatsächlich ausgeprägte länderspezifische Besonderheiten, die eine Anerkennung der Bildungsabschlüsse erschweren. So gibt es beispielsweise in Syrien zwei Arten von Abitur mit einem entweder literarisch-geisteswissenschaftlichen oder einem mathematisch-naturwissenschaftlichen Zweig. Für manche Studienrichtungen wird deshalb das im Herkunftsland erworbene Abitur nicht anerkannt, entspricht hier nur einem Hauptschulabschluss und muss nachgeholt werden. Das ist ein langer und langwieriger Weg.

IvAF steht für Integration von Asylbewerbern und Flüchtlingen. Damit sind Maßnahmen und Beratungsleistungen gemeint, die gemäß der ESF-Integrationsrichtlinie Bund speziell auf die Zielgruppe der geflüchteten Menschen hin ausgerichtet sind. Aufgabe ist der Zugang zu sprachlichen und schulischen Angeboten, zur betriebsnahen Aktivierung und Qualifizierung, aber auch die konkrete und nachhaltige Vermittlung in Ausbildung oder Arbeit. IvAF-Maßnahmen dienen als Verstärker für Arbeitsagenturen und Jobcenter, die diese Zielgruppe häufig nicht erreichen. Für den besseren Zugang zum Arbeitsmarkt werden enge Kooperationen zwischen Arbeitsverwaltung, Unternehmen sowie den relevanten sozialen und kommunalen Institutionen vor Ort aufgebaut und gepflegt. Gefördert werden IvAF-Maßnahmen vom Europäischen Sozialfonds (ESF) sowie dem Bundesministerium für Arbeit (BMAS). Bundesweit werden zurzeit 41 IvAF-Projektverbünde mit einer Laufzeit von vier Jahren gefördert.

ESF Integrationsrichtlinie