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„Kein Palaver-Prozess“

19. Oktober 2020

Logo Jobcenter Offenbach/Mainarbeit
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Matthias Schulze-Böing gibt sich mit dem Durchschnitt nicht zufrieden. Der Jobcenter-Chef ist da ganz wie seine Stadt Offenbach. Sie ist in einer Statistik sogar deutscher Spitzenreiter: 64 Prozent der Offenbacher haben Migrationshintergrund. Im kommunalen Jobcenter MainArbeit gilt das für mehr als 80 Prozent der Leistungsberechtigten.

Schulze-Böing nutzt die internationale Atmosphäre zum Vorteil der Behörde: In der Mitarbeiterschaft werden knapp 20 Sprachen gesprochen. Die Offenbacher reisen für Impulse zur Weiterentwicklung in die Niederlande, nach Italien und Großbritannien und tauschen sich auch mit türkischen Partnern aus. Aus dieser Offenheit entstand das Projekt „Ko-Produktion“, für das Fachleute von der Organisation Governance International aus Birmingham anreisten. Sie lieferten nicht nur methodisches Wissen, sondern schauten auch bei der Umsetzung über die Schulter.

Unter dem Titel „Ko-Produktion“ testet das Jobcenter Ansätze, um Leistungsberechtigte besser einzubeziehen. In einem dieser Ansätze, einem sogenannten Innovation-Lab, bekamen Leistungsberechtigte mehr Mitsprache, welche Maßnahmen in ihrer Arbeitsvermittlung finanziert werden sollten. In einem anderen Lab wurden 50 Teilnehmende befragt, nachdem sie eine Maßnahme absolviert hatten – mit teils überraschenden Ergebnissen: Die Deutschkurs-Teilnehmerinnen und -Teilnehmer etwa wünschten sich mehr Diktate.

Eine derartige Beteiligung von Betroffenen sei in der Sozialarbeit ein altes Thema, sagt Schulze-Böing. Das Jobcenter habe die Idee aufgegriffen und strikt ergebnisorientiert verfolgt: Jedes Lab bekam 100 Tage Zeit. „Es ist kein endloser Palaver-Prozess und kein Arbeitskreis, bei dem am Ende niemand mehr weiß, was eigentlich die Aufgabe war“, sagt Schulze-Böing. „Ich will Partizipation nicht um ihrer selbst willen. Aber wenn sie wirkt, kann sie für alle Seiten gewinnbringend sein.“

Gezeigt hat sich das im Lab „MainPate – DeinPate“. Sechs Leistungsberechtigte berieten sich gegenseitig. Ein Team um Arbeitsvermittler Ahmet Neseli stellte drei Tandems zusammen. Eines davon bestand aus zwei Frauen, die Neseli als völlig gegensätzlich beschreibt: eine resolute Bulgarin, die sich schon durch diverse Jobs gekämpft hatte, und eine introvertierte Frau, die sich zunächst nichts zutraute. Der enge und persönliche Kontakt ermutigte beide. Die Bulgarin fand eine Arbeit, ihre Patin entschied sich für ein Kunststudium.

Neseli plant bald eine Fortsetzung. Das sehr persönliche Tandem-Modell habe sich bewährt, aber insbesondere auch, dass „MainPate – DeinPate“ außerhalb des Jobcenters stattfindet. „Der Ort eines Treffens spielt eine große Rolle. Wenn Kundinnen und Kunden bei mir im Jobcenter sitzen, sind sie viel verschlossener.“ Die Teilnehmenden verabredeten sich privat, um über Zukunftspläne zu sprechen und sich zu unterstützen. Gruppentreffen fanden im Café statt. Das Jobcenter finanzierte unter anderem die Monatskarte für Bus und Bahn.

Schulze-Böing ist bewusst, dass Partizipation Unmut auslösen kann. „Manche Mitarbeitenden fühlen sich angegriffen in ihrer professionellen Ehre, wenn man ihnen sagt, dass Kundinnen und Kunden vielleicht besser wissen, was gut für sie ist“, sagt er. Hilfreich war, dass die Labs aus der Mitarbeiterschaft heraus entstanden. Und schließlich zahle jeder Erfolg eines Leistungsberechtigten auch positiv auf das Konto des Mitarbeitenden ein.

Die Labs der „Ko-Produktion“

Das Projekt „Ko-Produktion“ besteht aus Pilotversuchen, auch „Labs“ genannt. In jeweils 100 Tagen zeigten sich folgende Ergebnisse:

Vermittlungsbudget mitsteuern: Kundinnen und Kunden durften von Beginn an mitentscheiden, welche Maßnahmen finanziert werden. Die Vermittlerinnen und Vermittler erarbeiteten mit ihnen hierzu klare Ziele und Wünsche. Auch ein Träger von Maßnahmen war eingebunden. Drei intensiv eingebundene Leistungsberechtigte absolvierten ihre Maßnahmen anschließend mit Erfolg.

Bürgersymposium Rente: Gemeinsam mit schon erfahrenen Bürgerinnen und Bürgern entwickelte das Jobcenter eine Veranstaltung für Leistungsberechtigte, die kurz vor der Rente stehen. Die Mitarbeitenden lernten, welche Informationen vielen Leistungsberechtigten vor dem Renteneinstieg fehlen. Aus dem Format „Bürgersymposium – mein Weg in die Rente“ entwickelten sie einen Prototyp für Veranstaltungen zu weiteren Themen.

MainPate – DeinPate: In diesem Lab halfen sich sechs Leistungsberechtigte gegenseitig. Sie trafen sich jeweils einmal pro Woche zu zweit. Alle drei Wochen gab es ein Gruppentreffen im Café gemeinsam mit den Leiterinnen und Leitern des Projekts. Am Ende hatten alle Teilnehmenden Arbeitsverträge beziehungsweise einen Studienplatz.

Maßnahmen mitsteuern: Hier entwickelte das Jobcenter neue Formen des Feedbacks, nachdem Leistungsberechtigte eine Maßnahme absolviert hatten. In einem Workshop konnten sie sich äußern – weit über die üblichen Fragebögen hinaus. Mitarbeitende lernten unter anderem, dass sie beim Einholen von Feedback in einfacherer Sprache kommunizieren müssen – Deutsch ist für viele nicht die Muttersprache.

Governance International ist eine Non-Profit-Organisation. Sie unterstützt öffentliche Verwaltungen bei der Zusammenarbeit mit Bürgerinnen und Bürgern. Mitarbeitende der Organisation schulten Beschäftigte des Jobcenters und begleiteten einzelne Innovation-Labs.

Mehr zum Thema: Fallstudie zu „MainPate – DeinPate“.