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Partizipation macht Jobcenter-Mitarbeitenden das Leben leichter

14. Oktober 2020

Foto von Jörg Sommer
Foto von Jörg Sommer

Servicestelle SGB II: Beginnen wir mit einem Vorurteil: Partizipation ist aufwändig und teuer. Was erwidern Sie?

Jörg Sommer: Bürger mehr zu beteiligen verlängert Prozesse nur auf dem Papier. Bei vielen Großprojekten, Stichwort Stuttgart 21, hat man sich hinterher gewünscht, man hätte zu Beginn mehr mit den Menschen gesprochen und so Rückhalt gewonnen. Die Scherben später im Verlauf einzusammeln sorgt für Frustration, braucht viel Zeit und kostet damit Geld. Das sehe ich nicht nur für Großprojekte so, sondern auch im kleinen Rahmen – etwa im Verhältnis zwischen Jobcentern mit Bürgerinnen und Bürgern.

Servicestelle SGB II: Weshalb plädieren Sie für mehr Partizipation in Jobcentern?

Jörg Sommer: Partizipation macht Jobcenter-Mitarbeitenden das Leben leichter. Wenn sie ihre Klienten mehr beteiligen, erfahren sie früher, was diese können, wollen und ertragen. In Beteiligungsprozessen, die Ergebnisse produzieren, erfahren die Beteiligten eine Selbstwirksamkeit. Sie erleben, dass ihr Tun eine Wirkung erzielt und zu positiven Veränderungen führt. Ist das nicht genau die Wirkung, die bei den Klienten beabsichtigt ist? Sie erfahren, dass es hier wirklich um sie als Person geht und dass sie ihr Leben in die Hand nehmen können.

Servicestelle SGB II: Welches Umdenken braucht es?

Jörg Sommer: Ein Mitarbeitender im Jobcenter ist viel mit Akten beschäftigt, aber vor allem doch mit Menschen. Wer sein Gegenüber einbezieht, erlebt viel angenehmere Gespräche. Auch in den internen Jobcenter-Abläufen bringt mehr Beteiligung Vorteile: Partizipation verbessert das Betriebsklima – und daran sollte jeder Mitarbeitende ein Interesse haben. Je besser das Klima, das ist wissenschaftlich belegt, desto höher die Zufriedenheit und desto niedriger ist sogar der Krankenstand.

Servicestelle SGB II: Wie lässt sich Partizipation im Jobcenter trainieren?

Jörg Sommer: Ein Jobcenter ist eine starke prozessuale Verwaltungsstruktur. Deshalb empfehle ich ein ähnliches Herangehen wie in Kommunen, die ihre Bürger beteiligen wollen: Zuerst einmal braucht es Partizipation innerhalb des eigenen Hauses. Partizipation fängt bei der Jobcenter-Leitung an, die ihre Belegschaft besser an Entscheidungen beteiligt.

Servicestelle SGB II: Erst mal muss es intern klappen, damit es nach außen getragen werden kann?

Jörg Sommer: Ja, das hat mehrere Vorteile: Die Leitung setzt sich mit den Vorteilen und den Problemen auseinander und gewinnt Sicherheit, bevor sie an die Öffentlichkeit geht. Die Mitarbeitenden lernen im Prozess Wertschätzung der Leitung kennen. Sie können vielleicht erstmals ihre internen Prozesse mitbestimmen und erfahren Selbstwirksamkeit. Und die zweifelnden Mitarbeitenden überdenken ihre Haltung zu Partizipation.

Servicestelle SGB II: Welche Hürden gibt es auf diesem Weg?

Jörg Sommer: Vielerorts scheitert Beteiligung in Verwaltungen, weil Mitarbeitende schon jetzt Überarbeitung beklagen. Es muss also eine interne Diskussion geben, wie viel Zeit uns Partizipation wert ist. Gibt es da keine Lösung, braucht die Beteiligung erst gar nicht zu beginnen. Die interne Beteiligungsschleife zu Beginn kann also dafür sorgen, dass man gemeinsam Prozesse so justiert, sodass man Zeit für Beteiligung abzwacken kann.

Servicestelle SGB II: Partizipation kostet also doch immer Zeit?

Jörg Sommer: Es erfordert andere Prioritäten. Wenn Sie Ressourcen finden wollen, sollte immer die Belegschaft befragt werden. Niemand sonst kann besser beurteilen, welche Stunden des Arbeitstages wirklich nötig sind. Zugleich schließt interne Partizipation die Reihen. Sie entwickeln also gemeinsam die Art und Weise, Kundinnen und Kunden zu beteiligen. Dann sind alle Akteure, die es umsetzen, von vornherein mit im Boot. Vielleicht stellen sie aber auf dem Weg auch fest: „Wir sind bis Oberkante Unterlippe voll mit Arbeit.“ Diese Erkenntnis ist besser, als sich in einen Beteiligungsprozess zu wagen, den niemand stemmen kann.

Servicestelle SGB II: Wie lässt sich der Partizipationsbegriff positiver besetzen?

Jörg Sommer: Partizipation ist nicht negativ besetzt, sie ist in Deutschland einfach noch ein Fremdwort. Unsere demokratische Kultur sieht vor, dass wir alle vier Jahre den Bundestag wählen. An Wahlen nehmen aber Millionen Menschen gar nicht teil. In den vier Jahren findet politische Teilhabe nur über Parteien statt. Die binden aber immer weniger Mitglieder. Es gibt gebildete Menschen um die 30, die nie ein Demokratieerlebnis hatten.

Servicestelle SGB II: Die aber trotzdem auf die Straße gehen … 

Jörg Sommer: … aber nicht, weil sie plötzlich Demokratie oder Partizipation wollen, sondern weil sie etwas explizit nicht wollen. Das Windrad neben dem eigenen Haus zum Beispiel. Der klassische Einstieg in Beteiligung lautet: „Ich möchte keine Veränderung.“ Das ist per se ein schlechter Einstieg. Wir brauchen deshalb mehr Partizipation bei Zukunftsthemen und nicht nur, wenn es ums Verhindern geht.

Servicestelle SGB II: Wie hängen Vertrauen und Partizipation zusammen?

Jörg Sommer: Repräsentative Demokratie funktioniert nicht ohne Vertrauen. Ich wähle jemanden, dem ich vertraue, mich die kommenden vier Jahre zu vertreten. Vertrauen ist aber keine Voraussetzung für Beteiligung. Denn der Beteiliger – nehmen wir einmal wieder ein Jobcenter – setzt ja alle Spielregeln: Thema, Zeitrahmen, Beteiligungsmöglichkeiten. Wenn Bürgerinnen und Bürger partizipieren wollen, müssen sie die Spielregeln akzeptieren – dazu gibt es keine Alternative.

Servicestelle SGB II: Sollte Vertrauen dann nicht wenigstens das Ergebnis erfolgreicher Beteiligung sein?

Jörg Sommer: Nein, es ist ein Kollateralnutzen. Vertrauen zu erzeugen ist auch nicht das Ziel. Es kann Vertrauen in eine Lösung entstehen, die man gemeinsam findet. Wenn ich aber einen diametralen Interessenkonflikt habe, kann es gar kein Vertrauen geben. Das Ziel ist dann ein Kompromiss, vielleicht ein Konsens, der von allen Seiten tolerierbar ist.

Servicestelle SGB II: Für die Jobcenter klingt das gut. Viele Leistungsberechtigte haben kein Vertrauen, weder in sich noch in die Gesellschaft, die seit Jahren keine Arbeit für sie bereithält.

Jörg Sommer: Das Verhältnis zwischen Jobcenter und Bürger ist ja strukturell durch Misstrauen auf Seiten des Jobcenters geprägt. Es gibt Termine, Kontrollen, Sanktionen – und das ist auch gut so, denn es geht um das Geld der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler. Dann kann das misstrauende Jobcenter aber unmöglich totales Vertrauen von den Kunden verlangen. Misstrauen ist prägend für dieses Verhältnis und es ist vernünftig, das offen auszusprechen. Beide Seiten müssen sich laufend voneinander überzeugen – partizipative Prozesse sind dafür das beste Mittel. Denn Partizipation erfordert Dialog, Dialog erfordert Zuhören, Zuhören fördert das Verständnis für die Situation der jeweils anderen Seite. Das wiederum erleichtert die Akzeptanz von Regeln und Vorschriften, die letztlich nicht verhandelbar sind.

 

Vita

Jörg Sommer ist Autor, Umweltschützer und Partizipationsexperte. Er ist Direktor des Berlin Institut für Partizipation. Der Thinktank engagiert sich für die partizipative Weiterentwicklung unserer demokratischen Gesellschaft und berät Akteure aus allen Bereichen bei der Umsetzung sowie Erprobung neuer Partizipationsstrukturen. Sommer ist Autor von mehr als 200 Büchern und Vorsitzender der Deutschen Umweltstiftung.