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Vertrauen setzt an einem wunden Punkt an, unserer Ehre

14. Oktober 2020

Eva Schulte-Austum
Vertrauensexpertin Eva Schulte-Austum

Servicestelle SGB II: Dieses Interview findet per Videogespräch statt. Dabei hätten wir ja auch telefonieren können. Ist der Videoeinsatz gleich Ihre erste Lektion in Sachen Vertrauen?

Frau Schulte-Austum: Ja, ich schalte bewusst die Kamera an. Durch das Videobild bekomme ich mehr Informationen, etwa die Emotionen im Gesicht. Wir kommunizieren mit dem ganzen Körper. Ein persönliches Gespräch ist immer die beste Wahl – aber auch ein Video transportiert viele Informationen.

Servicestelle SGB II: Vertrauen im Digitalen war Ihr Einstieg ins Thema. In Ihrer Bachelorarbeit von 2009 ging es um virtuelle Teams. Wie kamen Sie darauf?

Frau Schulte-Austum: Mein Interesse am Vertrauen begann noch früher, im Jahr 2000, mit 15. In dieser Zeit habe ich gesundheitlich zu kämpfen gehabt. Ich hatte weder Vertrauen in mich noch in andere noch in das Leben. Ich hatte liebevolle Eltern und gute Freunde, die mir helfen wollten – aber dazu hätte ich sie an mich heranlassen müssen. Damals habe ich mir gesagt: Wenn ich die Zeit überlebe, dann will ich Vertrauen erforschen und anderen zeigen, wie es funktioniert.

Servicestelle SGB II: Was haben Sie seitdem gelernt?

Frau Schulte-Austum: Ich habe das Thema Vertrauen in mehr als 350 Interviews weltweit erforscht. Dazu bin ich in die Länder der Erde gereist, in denen Menschen die Kunst beherrschen, einander zu vertrauen, etwa Vietnam, Kanada und Schweden. Denn wenn wir etwas lernen wollen, ist es sinnvoll, die Menschen zu fragen, die bereits besonders gut darin sind. Das Fazit aus all diesen Gesprächen weltweit: Vertrauen ist kein Selbstzweck, sondern schenkt uns etwas. Es ist die Grundlage aller Beziehungen. Wenn wir misstrauisch werden, ziehen wir uns zurück, werden einsam. Menschen sind soziale Wesen und brauchen einander. Misstrauische Menschen sind unglücklicher.

Servicestelle SGB II: Gilt das gleichermaßen für den Beruf?

Frau Schulte-Austum: Absolut. Vertrauen spart Zeit, beschleunigt die Arbeit und senkt Kosten. Wenn ich vertraue, muss ich nicht fünfmal nachfassen und Protokolle an den großen Verteiler schicken. Drehen wir es mal um: Mit welcher Stimmung fahre ich ins Büro, wenn der erste Termin mit einer Person ist, der ich nicht vertrauen kann? Das belastet den ganzen Tag, es kostet Energie, wenn ich mich nicht auf jemanden verlassen kann.

Servicestelle SGB II: Dabei heißt es doch: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser.

Frau Schulte-Austum: So ein Denken führt schnell in einen Teufelskreis. Kontrolle macht mehr Kontrolle nötig. Und dann setzt schnell ein, was Psychologinnen und Psychologen eine selbsterfüllende Prophezeiung nennen. Wer misstraut und kontrolliert, fördert unanständiges Verhalten, welches Misstrauen erst rechtfertigt. Führungskräfte schaffen sich damit ein Team, das nicht eigenständig arbeitet und sich nicht voll reinhängt. Die Psychologie spricht da auch vom Golem-Effekt: Ich versuche gar nicht, den anderen positiv zu überraschen – der traut mir ja ohnehin nicht.

Servicestelle SGB II: Könnte nicht auch das Gegenteil eintreten – dass ich jemanden positiv überraschen will?

Frau Schulte-Austum: Das gibt es auch und nennt sich Pygmalion-Effekt. Der ist unglaublich mächtig. Denn Vertrauen setzt an einem wunden Punkt an, unserer Ehre. Schenkt uns jemand Vertrauen und sagt es auch noch, sind wir unglaublich motiviert. Da denken wir gerne unter der Dusche noch über Probleme im Job nach. Hier spielt das Gesetz der Gegenseitigkeit eine große Rolle: Wenn mir jemand Vertrauen schenkt, wiegt das sehr schwer. Ich will die Waage wieder ins Gleichgewicht bringen, indem ich dieses Vertrauen nicht enttäusche.

Servicestelle SGB II: Im Jobcenter ist alles durch Gesetze geregelt, es gibt feste Prozesse. Was nützt da Vertrauen?

Frau Schulte-Austum: In jeder Struktur gibt es Entscheidungsspielräume. Ich berate selbst ein Jobcenter – und auch deren Welt ist nicht starr. Führungskräfte können Spielräume gewähren. In der Praxis knirscht es oft zwischen denen, die Kunden betreuen, und jenen, die Leistungen bewilligen. Wenn alle aber die Rückendeckung von oben haben, sprechen sie mehr miteinander und lösen Probleme schnell unter sich. Wo Sachgebietsleiter Kontrollfreaks sind, haben Mitarbeiter Angst. Da laufen sie mit jedem Problem zur Führungskraft – und die beschwert sich dann über all die Arbeit.

Servicestelle SGB II: Lässt sich Vertrauen üben?

Frau Schulte-Austum: Ja. Persönlichkeit ist kein starres Konstrukt, sondern verändert sich bis ins hohe Alter. Die Krux ist, dass es Grundschulen, Musikschulen und Fahrschulen gibt – aber keine Schulen für menschliche Beziehungen. Das ist auch für den Beruf fatal. Gute Führungskräfte sind heute Beziehungsmanager, die vermitteln und Menschen in die passende Position bringen. Dazu brauchen sie in erster Linie Selbstvertrauen, um mit schwierigen Situationen umgehen zu können. Die Führungskraft kann sich nur mit geradem Rücken und wenn sie sich selbst vertraut vor Mitarbeitende stellen, falls etwas schiefgeht.

Servicestelle SGB II: Viele Leistungsberechtigte sind oft enttäuscht worden, haben kaum Vertrauen ins System. Gibt es hoffnungslose Fälle, die nie mehr vertrauen können?

Frau Schulte-Austum: Ich mag den Begriff hoffnungslose Fälle nicht. Das impliziert ja, dass jeder Versuch zwecklos ist. Was in Jobcentern häufig passiert, ist: Menschen kommen schon mit ganz niedrigem Selbstvertrauen zum Termin, weil Arbeitslosigkeit in Deutschland ein Makel ist. Dann sitzt auf der anderen Seite vielleicht ein Berater, der sich super mit Formularen auskennt, aber nicht mit Menschen. Wenn der nun denkt: „Ach, den kriege ich eh nie vermittelt“, führt das zur selbsterfüllenden Prophezeiung. Der Kunde merkt das Misstrauen, wird innerlich noch kleiner – und soll dann in dieser Stimmung Bewerbungen schreiben.

Servicestelle SGB II: Was können also Jobcenter-Mitarbeitende besser machen?

Frau Schulte-Austum: Zuallererst die eigene Haltung hinterfragen. Welches Bild habe ich von meinen Kundinnen und Kunden? Wenn ein grundsätzlich positives Menschenbild vorherrscht, profitieren alle Beteiligten davon. Eine solche Haltung kostet nichts und sie spart sogar Zeit. Wer seinem Gegenüber mit Zuversicht und Vertrauen begegnet, wird das gemeinsame Ziel schneller erreichen – die Menschen wieder in Arbeit zu bekommen.

Servicestelle SGB II: Das Menschenbild und die eigene Haltung zu hinterfragen, ist etwas sehr Persönliches. Was legt den Schalter im Kopf um?

Frau Schulte-Austum: Die zentrale Frage hierfür ist: Was für ein Mensch will ich sein? Jemand, der das Potenzial in Menschen sieht, ihnen etwas zutraut, Hilfe anbietet und Freude daran hat, andere wachsen zu sehen? Jemand, für den sich andere gerne ins Zeug legen und der in den allermeisten Fällen positive Erfahrungen macht? Oder will ich jemand sein, der immer den Betrug wittert, anderen misstrauisch begegnet, grundsätzlich skeptisch ist und alles dreimal kontrolliert, aus Angst enttäuscht zu werden?

Servicestelle SGB II: Wie lässt sich diese Angst besiegen?

Fakt ist: Misstrauen und Kontrolle schützen uns nicht vor schlechten Erfahrungen, Misstrauen und Kontrolle machen schlechte Erfahrungen gerade erst wahrscheinlich. Hier wirkt die negative Form der selbsterfüllenden Prophezeiung: der Golem-Effekt. Je weniger ich meinem Team zutraue, desto geringer sind die Erwartungen der Teammitglieder an sich selbst. Wir haben es also zu einem großen Teil selbst in der Hand, welche Erfahrungen wir machen. Gedanken schaffen Wirklichkeit. Deshalb lohnt es sich, seine Gedanken sorgfältig zu wählen. Das ist der erste Schritt für eine bessere Haltung.

Vita

Eva Schulte-Austum  ist Wirtschaftspsychologin, Business-Coach und eine bekannte Vertrauensexpertin. Sie berät Unternehmen und Jobcenter, hält (Online-)Seminare und Vorträge. Ihre Bachelorarbeit war der Einstieg in die Vertrauensforschung: 2009 untersuchte sie die Arbeit in virtuellen Teams bei einem Unternehmen der Otto Group.