Derya Mutlu hat das Arbeitsleben in seinen wildesten Extremen erlebt. Früh in ihrem Leben stand sie musikalisch ganz oben – als Sängerin auf der großen Bühne. Ohne Vorwarnung ging es bergab. Nun sitzt Derya Mutlu wieder oben: in einem Büroraum mit Blick über die Dächer von Bremen. Beim Frauenprojekt Tessa, einem Beschäftigungsangebot, hat sie viel Selbstvertrauen gewonnen – und ist selber gespannt, was noch kommen mag.
Mutlu stand als junge Frau vor einer spannenden Zukunft. Ein Musikproduzent hatte sie entdeckt. Mit ihrem Stil überraschte sie Musikfans, trat mit Stars auf und gewann einen renommierten Preis. Doch die Freude darüber währte nicht lang. Die Plattenfirma sei pleite gegangen, erzählt Mutlu. Der ausgezeichnete Song sei deshalb nicht auf CD erschienen, ein herber finanzieller Verlust.
Die Teilnehmerinnen arbeiten bis zu 30 Stunden pro Woche und erfahren eine enge Betreuung.
Tessa schafft Struktur, aber ohne den Druck von Vorgesetzten
Für Mutlu folgten instabile Jahre. Sie sitzt im Tessa-Arbeitsraum, zwischen Tischen und Computern, und erinnert sich an viele Partys, DJ-Jobs und ein Musikstudium an der Pop-Akademie. In Süddeutschland schaffte sie sogar den Abschluss. „Ich wollte dann aber unbedingt wieder in den Norden ziehen – das war vielleicht ein Fehler“, sagt sie. Denn im Norden warteten leider keine Engagements, sondern nur die Arbeitslosigkeit, kurzzeitige Jobs und die Betreuung ihrer schwer kranken Mutter. Bis sie ins Projekt Tessa kam. „Hier kriege ich wieder Struktur in meinen Alltag, aber ohne den Druck von einem normalen Job“, sagt Mutlu. „Alle sind sensibel und nicht sauer, wenn ich mal zu spät komme.“ Ihr nachdenklicher Blick weicht einem zuversichtlichen Lächeln.
Das Frauenprojekt Tessa ist in etwa so unkonventionell wie Derya Mutlu. Genau darin sieht auch Susanne Ploog vom Jobcenter Bremen den großen Vorteil. Die Teamleiterin des Arbeitgeber-Träger-Teams sagt: „Bei Tessa geht eben nicht um so vermeintlich klassische Frauengeschichten wie Nähen und Kochen – hier geht es um Mediengestaltung.“ Die Teilnehmerinnen drehen kurze Filme und Videobeiträge, bereiten Interviews vor und führen sie, kümmern sich um Schnitt und Musik. „Die Kurzfilme sollen keinen Golden Globe gewinnen“, sagt Ploog, „aber die Frauen können kreativ sein, ihre Themen einbringen und dabei auch über sich selbst nachdenken.“ Durch die Arbeit mit der Technik entstehe Selbstvertrauen. „Da können manche nach Hause gehen und ihren Kindern dann was am Computer zeigen.“
Susanne Ploog ist Teamleiterin des Arbeitgeber-Träger-Teams im Jobcenter Bremen
Durch Arbeit sollen die Frauen ihren Alltag neu ordnen
Eine Stelle in der Medienbranche werde unmittelbar danach kaum eine Teilnehmerin finden, sagt Ploog. Das Jobcenter schaue niedrigschwellig auf Arbeitsgelegenheiten (AGH) wie diese: „Durch die 15 bis 30 Stunden Arbeit pro Woche organisieren die Frauen eine Kinderbetreuung, entwickeln Stabilität und Zuverlässigkeit und finden hoffentlich neue Perspektiven und Ziele.“
Tessa ist mit diesem Ansatz inzwischen eine der am längsten laufenden AGH in Bremen – und liegt von den Kosten her im Durchschnitt. Das Jobcenter wende pro Jahr 84.000 Euro an Maßnahmekosten auf, berichtet Ploog. Teilnehmende erhalten zusätzlich zu ihren Leistungen eine Mehraufwandsentschädigung und ein Ticket für Bus und Bahn. Insgesamt gibt es in Bremen mehr als 60 Arbeitsgelegenheiten mit bis zu 1.100 Plätzen für Teilnehmende. Die Integrationsfachkräfte, also Fallmanager oder Vermittler, weisen Leistungsberechtigte zu. Wer an beliebten AGH wie Tessa teilnehmen will, braucht ein bisschen Glück, denn Plätze werden laufend und dann jeweils an die Schnellsten vergeben.
Teilnehmerinnen des Projekts Tessa beim Videodreh.
Teilnehmerinnen schaffen es zurück in den Arbeitsmarkt
Friederike Pollok leitet das Projekt für den Beschäftigungsträger bras e.V.. „Ich sehe bei den Menschen grundsätzlich Potenzial“, sagt Pollok mit einem breiten Lächeln und Zuversicht in der Stimme. „Bei einigen dauert es länger, manchen gefällt das Filmemachen nicht. Aber bei 60 bis 70 Prozent sehe ich eine positive Entwicklung – bis hin zu einigen Ex-Teilnehmerinnen, die es in den ersten Arbeitsmarkt geschafft haben.“
Pollok lernt die Frauen sehr genau kennen, denn durchschnittlich bleiben sie eineinhalb Jahre im Projekt. Ihre Herausforderungen seien oftmals sehr ähnlich: Viele der Frauen hätten keine Berufsausbildung, seien deshalb lange ohne eine Beschäftigung, was wiederum zu gesundheitlichen Problemen führe. Bei Tessa bekommt der Alltag, auch abseits des Familienlebens, wieder Struktur.
Friederike Pollok ist Leiterin des Projekts für den Beschäftigungsträger bras e.V.
Derya Mutlu ist bereit und aufgeregt zugleich
Aber wie geht es dann weiter? Vor Ablauf der Maßnahme führen Fallmanager und Leistungsberechtigte ein Gespräch, Beschäftigungsträger wie bras e.V. geben über ein Schreiben Empfehlungen. Der Kontakt zum Jobcenter zwischendurch läuft oftmals auch über die Träger – die dann als „Übersetzer“ für die Leistungsberechtigten tätig werden. Ein nächster Schritt ist für viele eine sogenannte 16i-Stelle, also eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung, die nach dem Teilhabechancengesetz durch einen Lohnzuschuss gefördert wird.
Auch Derya Mutlu kann sich eine solche feste Beschäftigung gut vorstellen. Tessa habe sie gut durch die Coronazeit gebracht, denn das Projekt lief unter Hygieneauflagen weiter. „Im Lockdown hat es mir geholfen hierhin zu kommen und nicht zu Hause in Depressionen zu verfallen“, sagt sie. „Ich bin bereit für eine Arbeit, habe aber ehrlich gesagt auch Schiss.“ An dieser Stelle schaltet sich Friederike Pollok ins Gespräch ein – und nimmt ihre Teilnehmerinnen in die Pflicht: „Am Ende muss nicht das Jobcenter einen Plan haben, sondern die Frauen brauchen ein Ziel.“ Noch einmal auf die große Bühne zurück will Mutlu nicht. Aber kreativ sein und damit das eigene Leben in ihrer Heimat Bremen finanzieren – das wäre ihr Traum.