Sie erforschten von 2022 bis 2024 die Digitalisierung in gemeinsamen Einrichtungen und kommunalen Jobcentern. Wie kam es dazu?
Martin Kuhlmann: „Im Soziologischen Forschungsinstitut Göttingen untersuchen wir seit 2015 Fragen der Digitalisierung in ganz unterschiedlichen Tätigkeitsbereichen, seit drei bis vier Jahren verstärkt auch in der öffentlichen Verwaltung. Die Jobcenter sind für uns aus mehreren Gründen spannend: Erstens sind Fragen der Wirkung und Gestaltung von Digitalisierung in der öffentlichen Verwaltung untererforscht. Insbesondere gilt das für die Digitalisierung an der Schnittstelle zu Bürgerinnen und Bürgern. Zweitens handelt es sich bei Jobcentern um einen Bereich der öffentlichen Verwaltung, der schon recht weit digitalisiert ist – Gestaltung und Wirkung von Digitalisierung lässt sich hier also gut beobachten.
Drittens sind Jobcenter für uns als Arbeitssoziologinnen und Arbeitssoziologen interessant, weil hier eine gute Dienstleistung nur im Austausch und in der Zusammenarbeit zwischen Beschäftigten und Hilfesuchenden gelingt. Das unterscheidet die Arbeit in Jobcentern von anderen Bereichen, wie etwa dem Finanzamt. Im Jobcenter geht es um mehr als nur den Austausch von Daten: Es braucht gegenseitige Verständigung, Zusammenarbeit und ein Vertrauensverhältnis. Dieses sehr spezifische Verhältnis stellt auch besondere Anforderungen an den Digitalisierungsprozess."
Wie sind Sie in Ihren Studien vorgegangen und was fiel als erstes ins Auge?
Antonia Altendorf: „Wir haben zwischen 2022 und 2024 Digitalisierungsprozesse in insgesamt drei Jobcentern, sowohl gemeinsame Einrichtungen als auch ein kommunales Jobcenter, untersucht. Dazu gehörten jeweils mehrtägige Hospitationen sowie leitfadengestützte Interviews mit Führungskräften, Beschäftigten, Stabstellen, dem Personalrat und Hilfesuchenden. Zudem erfolgte eine Fragebogenerhebung sowohl unter Beschäftigten als auch unter Hilfesuchenden. Ergänzend führten wir Expertengespräche mit Leitungskräften und Digitalisierungszuständigen in drei weiteren gemeinsamen Einrichtungen sowie mit Vertreterinnen und Vertretern der Bundesagentur für Arbeit (BA), von Kommunen und einem Dienstleister für kommunale IT-Infrastruktur.
Dabei wurde deutlich: Im Vergleich zu anderen Verwaltungsbereichen sind die untersuchten Jobcenter in der Digitalisierung schon weit fortgeschritten. In allen Jobcentern, die wir kennengelernt haben, ist beispielsweise die E-Akte bereits seit vielen Jahren im Einsatz. Das ist in vielen anderen Bereichen der öffentlichen Verwaltung noch nicht üblich. Und auch an der Schnittstelle zu den Hilfesuchenden passiert hier schon sehr viel.
Aber auch bei den Jobcentern bestehen Erschwernisse und Baustellen. Häufig sind uns fehlende Schnittstellen zwischen den Programmen begegnet, sodass Daten mehrfach erfasst werden müssen sowie fehlende Schnittstellen zu anderen Behörden. Hinzu kommt, dass die digitalen Angebote an manchen Stellen nicht eng entlang der Anforderungen vor Ort gestaltet sind. Es ist uns immer wieder begegnet, dass es zu Erschwernissen kommt und Mehraufwände erforderlich sind, weil das zur Verfügung gestellte Programm nicht richtig zum Arbeitsprozess passt. Wir haben zum Beispiel Situationen angetroffen, in denen Beschäftigte zusätzliche eigene Excel-Listen der zu betreuenden Personen führen. Denn die benötigten Informationen ließen sich sonst nicht so abbilden und strukturieren, wie sie für den Bearbeitungs- und Beratungsprozess benötigt werden.“
Welche Unterschiede zwischen den Jobcentern offenbart Ihre Forschung?
Antonia Altendorf: Im Umgang mit digitalen Möglichkeiten zeigen sich erhebliche Unterschiede zwischen den verschiedenen Jobcentern. Es gibt Jobcenter, die ganz vorne mit dabei sind und neue digitale Möglichkeiten zügig und umfassend, manchmal vielleicht auch etwas überhastet, vorantreiben. Oft verbunden ist dies mit der Hoffnung auf schnelle Effizienzgewinne mit Blick auf die angespannte Personalsituation oder höhere Bürgerfreundlichkeit. Dann gibt es Jobcenter, die einen eher pragmatischen Umgang mit Digitalisierung wählen: Sie wägen genau ab, in welchen Fällen und Situationen sich welche Möglichkeit besser eignet und experimentieren dabei auch mit digitalen Möglichkeiten, etwa im Rahmen von Pilotprojekten. Andere Jobcenter sind eher zurückhaltender, etwa weil sie befürchten, dass wichtige Momente des persönlichen Kontakts verloren gehen.
Martin Kuhlmann: Ein Beispiel ist die Online-Terminvereinbarung. Da gibt es die Jobcenter, die sagen: Nein, das machen wir nicht. Wir wollen den Beschäftigten die Möglichkeit geben, sich selbst zu überlegen, wann sie welche Person, in welchem Umfang und in welcher Reihenfolge einladen. Diese Möglichkeit fällt weg, wenn die Leute sich selbst Termine buchen. Das ist die eher skeptische Sicht. Andere Jobcenter verfolgen eher einen pragmatischen Umgang damit und bieten etwa die Möglichkeit einer digitalen Terminanfrage an – wann und in welchem Umfang der Termin dann tatsächlich stattfindet, entscheiden die Sachbearbeitenden im Jobcenter.
Was sind typische Herausforderungen bei der Digitalisierung im Jobcenter?
Antonia Altendorf: „Wir haben es mit einem sehr heterogenen Feld sowohl hinsichtlich der Fallkonstellationen und Anliegensarten als auch der Haltungen und Möglichkeiten der Hilfesuchenden zu tun. Digitalisierung steht vor der Herausforderung, dieser Heterogenität gerecht zu werden. Erstens können und wollen nicht alle Hilfesuchenden digitale Möglichkeiten nutzen. Hierfür gibt es unterschiedliche Gründe: etwa die digitale Ausstattung und die Erfahrungen mit digitalen Möglichkeiten, aber auch Sprachkenntnisse oder vorhandene Unterstützungsstrukturen spielen eine Rolle.
Zweitens sind digitale Zugangswege auch nicht für alle Situationen und Anliegen geeignet. Es muss differenziert werden zwischen Fällen und Situationen, in denen der persönliche Austausch wichtig ist und solchen, in denen eine digitale Abstimmung ausreicht. Unsere Forschung zeigt: Es braucht auch künftig sowohl persönliche als auch digitale Zugangswege. Interaktion und Zusammenarbeit dürfen durch Digitalisierung keinesfalls ersetzt oder verdrängt, sondern sollten vielmehr unterstützt werden. Dabei profitiert die Zusammenarbeit zwischen Beschäftigen und Hilfesuchenden davon, wenn Kontakte individuell gestaltet werden können.“
Martin Kuhlmann: Die Gestaltung von Digitalisierung ist eine große Herausforderung für Jobcenter. Für eine gelingende Digitalisierung braucht es kontinuierliche und institutionell fest verankerte Mitgestaltungsmöglichkeiten für Beschäftigte und prozessnahe Führungskräfte. Und dies wiederum erfordert zeitliche, personelle und organisatorische Ressourcen, die in den Jobcentern gerade im Arbeitsalltag fast immer knapp sind. Zudem ist ein Wandel im Rollenzuschnitt und -verständnis von Führungskräften wichtig. Der Schwerpunkt im Aufgabenzuschnitt von Führungskräften in der öffentlichen Verwaltung liegt auf Personalführung und Fachaufsicht. Es braucht aber zusätzlich einen Fokus auf Prozessoptimierung und die Organisation von Mitgestaltungsprozessen.
Wie können Jobcenter alle Mitarbeitenden in die erfolgreiche Digitalisierung miteinbeziehen?
Antonia Altendorf: „Grundsätzlich stellen wir in allen untersuchten Jobcentern eine hohe Bereitschaft der Beschäftigten und ein hohes Interesse an Digitalisierung fest. Der Umgang ist sehr pragmatisch und sachorientiert. Es gibt keinesfalls eine Abwehrhaltung, sondern eher das Streben in Richtung einer breiteren Nutzung digitaler Möglichkeiten, sofern diese sinnvoll und nützlich sind und einen Mehrwert für den Arbeitsprozess bringen.
Es ist wichtig, den Beschäftigten die Möglichkeit zu geben, Digitalisierung aktiv mitzugestalten. Das führt nicht nur dazu, dass die digitalen Angebote besser werden, weil sie passender auf die Arbeitsanforderungen ausgerichtet sind. Die Beschäftigten fühlen sich auch wertgeschätzt und anerkannt. Außerdem darf Mitgestaltung sich nicht nur auf die Einführung neuer Programme beschränken, sondern sollte eine Dauereinrichtung sein.
Das funktioniert jedoch nur teilweise nebenbei im normalen Arbeitsalltag. Gerade weil viele Jobcenter mit Personalmangel zu kämpfen haben, ist es umso wichtiger im Zusammenhang mit Digitalisierungsprozessen gezielt zusätzliche Ressourcen bereitzustellen.“
Martin Kuhlmann: „Wir kennen Beispiele aus Häusern, in denen so ein Prozess sehr gut läuft. Diese Jobcenter haben in der Regel permanente Arbeitsgruppen installiert, in denen Beschäftigte aus verschiedenen Bereichen und Hierarchieebenen Anforderungen diskutieren und Änderungen gemeinsam gestalten. Im Rahmen von Pilotprojekten werden dann digitale Anwendungen zunächst ausprobiert, bevor sie insgesamt eingeführt werden. Zudem gibt es in einigen Jobcentern Digitalisierungsbeauftragte, die zuvor beispielsweise Arbeitsvermittler waren und daher über eigenes Wissen und Erfahrungen im Tagesgeschäft verfügen. Das ist sehr hilfreich für die Gestaltung von Digitalisierung.
Auch wichtig, aber schwieriger umzusetzen, ist es, die Hilfesuchenden direkt in die Gestaltung von digitalen Möglichkeiten einzubeziehen. Zwar haben die Beschäftigten meist ein gutes Gespür für die Anforderungen und Wünsche der Hilfesuchenden, diese direkt einzubinden wäre jedoch besser.“
Was ist mit Blick auf die Leistungsberechtigten wichtig, damit die Digitalisierung der Jobcenter weiter erfolgreich voranschreitet?
Martin Kuhlmann: Unsere schriftliche Befragung von Hilfesuchenden hat gezeigt, dass für weit über 80 Prozent der persönliche Kontakt wichtig ist. Gleichzeitig wünscht sich etwa die Hälfte, dass sie ihre Anliegen mit dem Jobcenter digital regeln können. Es sind also Bedarfe für beide Zugangswege vorhanden. Tatsächlich wünscht sich nur eine Minderheit, dass alles nur digital abläuft. Dies zeigt: auch künftig braucht es vielfältige Zugangswege.
Hintergrund
Antonia Altendorf und Dr. Martin Kuhlmann forschen am Soziologischen Forschungsinstitut (SOFI), zum Thema Digitalisierung. Ihr Fokus liegt auf den Gestaltungsprozessen und Wirkungen von Digitalisierung in verschiedenen Tätigkeitsbereichen und Branchen. Weitere Informationen zu ihrer Arbeit und die Ergebnisse der im Interview diskutierten Studien finden Sie hier.
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Im Praxisblick erzählen wir mehr spannende Geschichten zu den Digitalisierungsprozessen in den Jobcentern.
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