Herr Dr. Schulze-Böing, Sie haben das Sekretariat des Verbundprojektes „Coaching von Bedarfsgemeinschaften – Family Fit“ geleitet. Worum ging es in dem Projekt?
Dr. Matthias Schulze-Böing: Im Projekt „Family Fit“ geht es um innovative Ansprache- und Coachingkonzepte von Arbeitsuchenden. Die grundsätzliche Idee ist, die jeweiligen Bedarfsgemeinschaften und teilweise die familiären Zusammenhänge in die Beratung und Betreuung einzubeziehen. Dazu haben sich Jobcenter und verschiedene kommunale Träger in Offenbach, Frankfurt, Kassel und in den Landkreisen von Marburg und Homberg zusammengetan. Entstanden ist das Ganze im Rahmen des EU-Recovery-Programms zur Bewältigung der Folgen der Coronapandemie. Und da ich nach meiner Zeit als Geschäftsführer hier im Jobcenter Offen- bach auf langjährige Erfahrungen mit der Einwerbung von Drittmitteln auch auf europäischer Ebene zurückgreifen konnte, habe ich die Leitung des Verbundsekretariats von „Family Fit“ übernommen.
Sie sagen, die grundsätzliche Idee ist die Einbeziehung der Bedarfsgemeinschaften in Beratung und Betreuung. Was bedeutet das?
Dr. Matthias Schulze-Böing: Der klassische Ansatz in der Arbeitsförderung ist, die Einzelperson in den Mittelpunkt zu stellen, weil man davon ausgeht, dass sich letztlich immer eine Einzelperson auf einen Job bewirbt. Wir haben nun versucht, die Menschen auch in ihrem sozialen Kontext zu sehen und zu erreichen. Das ist zwar im SGB II kein neuer Gedanke, aber er wurde nur vereinzelt systematisch verfolgt und umgesetzt. In unserem Verbund von fünf Projekten hatten wir nun Gelegenheit, diesen Ansatz in sehr unterschiedlichen regionalen Kontexten zu erproben. Da sind ländliche und großstädtische Räume dabei, Regionen mit sehr hohem und mit eher niedrigem Migrationsanteil. Und wir konnten nun in diesen sehr unterschiedlichen Settings anschauen: Was sind gute Voraussetzungen, damit es funktioniert?
Was sind vielleicht auch Erfahrungen, aus denen wir lernen können?
Gab es bei aller Unterschiedlichkeit generalisierbare Erfahrungen?
Dr. Matthias Schulze-Böing: Ja, die gab es. Zunächst hat sich bestätigt, dass ein solcher Ansatz notwendig ist und einen echten Mehrwert bringt. Es gab einen wirklichen, qualitativen Fortschritt bei bestimmten Zielgruppen. Aber es ist wesentlich aufwendiger als die klassische Beratung im Jobcenter mit Komm-Struktur. Insofern ist es wichtig zu definieren, für welche Zielgruppen sich ein aufsuchender Ansatz eignet. Und es gibt viele fachlich-handwerkliche Details.
Wie bereitet man sich vor, wie führt man Termine in der aufsuchenden Beratung durch? Aber auch für die interne Organisation der Jobcenter ergeben sich Konsequenzen. Wenn zum Beispiel Jugendliche in der Familie sind, dann sind die im Team U25, während ein Elternteil vielleicht beim Coaching ist und der andere in der normalen Beratung. Alles aus einer Hand – das ist auch für die Struktur der Jobcenter ein organisatorischer Eingriff, den man nicht unterschätzen darf.
Was waren die wichtigsten Learnings aus Ihrer Sicht?
Dr. Matthias Schulze-Böing: Für mich war überraschend, wie positiv die aufsuchende Beratung angenommen wurde. Ich hatte damit gerechnet, dass wir auf mehr Skepsis stoßen würden, wenn wir Menschen in ihrem unmittelbaren Wohnumfeld aufsuchen. Und wir haben gelernt, dass Angebote für Kinder oft den Weg zu den Erwachsenen ebnen. Wir sprechen hier von ganz ungewöhnlichen Settings, die nichts mit der klassischen Arbeitsförderung zu tun haben. Es gab beispielsweise Spielenachmittage für Kinder, also eine Art informelles Beisammensein. Da haben sich Mitarbeitende der Jobcenter aufgeteilt: Eine Person hat sich um die Kinder gekümmert, die andere hatte dann Zeit, mit den Erwachsenen über die Themen und Probleme der Familien zu sprechen. Das hat sich als sehr fruchtbar erwiesen und es gilt jetzt, darüber nachzudenken, wie man das verallgemeinern und weiterführen kann.
Welche Kompetenzen brauchen die Mitarbeitenden der Jobcenter für den Ansatz der aufsuchenden Beratung?
Dr. Matthias Schulze-Böing: Ein ganzes Bündel komplexer Fähigkeiten, denn die Aufgaben sind nicht trivial, es kommt die ganze Bandbreite des Lebens auf den Tisch. Nicht selten treffen die Kolleginnen und Kollegen auf gravierende Notlagen. Interkulturelle Kompetenz ist wichtig, aber auch die Fähigkeit zu guter Planung, um die Probleme der Menschen strukturiert und durchdacht anzugehen. Es braucht Reflexions- vermögen, weil es immer wieder auch emotional sehr herausfordernde Situationen gibt. Man muss abschätzen können, wann andere Expertinnen und Experten oder andere Stellen hinzugezogen werden sollten. Außerdem sollte man keine falschen Erwartungen bei der Zielgruppe wecken. Ich würde immer empfehlen, eine gute Supervision für die Mitarbeitenden anzubieten. Wir haben zum Beispiel auch Fortbildungen in systemischer Beratung gehabt, die sich sehr bewährt haben.
Das Ziel bleibt aber nach wie vor die Vermittlung in den Arbeitsmarkt?
Dr. Matthias Schulze-Böing: Natürlich. Es geht nicht um allgemeine Lebensberatung oder Unterstützung in schwierigen Situationen. Es gibt den gesetzlichen Auftrag der Integration in Arbeit. Das ist das Ziel. Aber man muss sich klar sein, dass zumindest in bestimmten Phasen eines solchen Prozesses andere Themen eine sehr große Rolle spielen können. Meines Erachtens kommt man dennoch schneller zum Ziel und der Aufwand ist insgesamt wahrscheinlich sogar niedriger, als wenn wir uns gesondert um jede einzelne Person bemühen. Aber es erfordert ein neues Denken und einen neuen Ansatz in unserer Arbeit.
Hat das Bürgergeld-Gesetz Auswirkungen auf diese Art der aufsuchenden Beratung?
Dr. Matthias Schulze-Böing: Ich würde eher sagen, vieles, was das Bürgergeld-Gesetz enthält, ist in den Jobcentern schon angelegt. Es war zum Beispiel eine Prämisse in allen fünf Projekten, dass die Teilnahme für die Bedarfsgemeinschaften freiwillig ist und es keine Sanktionen gibt, wenn sich jemand weigern sollte. In der Gesamtschau hat das Projekt einen wertvollen Beitrag dazu geleistet, auszuloten, wie weit Ganzheitlichkeit in der Betreuung gehen kann.