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Soziale Teilhabe

„Wir setzen auf Selbstverantwortung und Beteiligung“

Frank Ulmer und Michael Knapp

Wie können Jobcenter die Dynamik der Coronazeit nutzen – für mehr partizipative Prozesse und eine Kultur des Vertrauens? Wir fragen nach bei Jobcenter-Chef Michael Knapp aus dem Kreis Segeberg und dem Verwaltungsexperten Frank Ulmer.

Servicestelle SGB II: Wir treffen uns heute zum Austausch – coronatypisch auf Distanz statt persönlich. Herr Knapp, Sie hatten anstrengende Monate im Jobcenter. Herr Ulmer, Ihre Expertise zu Verwaltungen im Wandel ist durch Corona gefragter denn je. Welche Frage beschäftigt Sie, Herr Knapp? 

Michael Knapp: Ich frage mich vor allem: Wie werden wir in Zukunft arbeiten? Vor Corona sind jeden Monat 4.000 bis 5.000 Menschen zu uns gekommen. Diese Zahl fiel über Nacht auf null. Heute gibt es wieder einige Gespräche vor Ort. Wie vorher wird es aber sicher nicht wieder werden. Wir haben ja unsere Prozesse komplett umgestellt. Auch die Arbeit in den Teams hat sich gewandelt.

Servicestelle SGB II: Inwiefern? 

Michael Knapp: Bei uns haben schon vor Corona 29 Prozent der Beschäftigten Telearbeit genutzt. Darunter sind viele Mitarbeitende, die wegen der Kinder oder aus gesundheitlichen Gründen teilweise zu Hause arbeiten müssen. Wir waren schon auf dem Weg, uns von der Präsenzkultur zu verabschieden. Durch Corona haben wir einen Quantensprung gemacht in Richtung Homeoffice.

Servicestelle SGB II: Herr Ulmer, sind die Jobcenter vorbereitet?

Frank Ulmer: Das scheint zumindest im Kreis Segeberg so. Der Standard ist das aber nicht. Ich kenne Fälle, wo Mitarbeitende Akten in der Straßenbahn transportieren mussten, weil sie keine E-Akte hatten. Eine funktionierende IT ist essenzielle Voraussetzung. Ganz zentral sind für mich Visionen und Leitbilder. Nur wenn diese klar definiert sind, entstehen eine moderne Arbeitskultur und ein Klima von Vertrauen und Partizipation.

Servicestelle SGB II: Warum sind Leitbilder so wichtig?

Frank Ulmer: Zum einen, weil Jobcenter-Mitarbeitende hohe Belastungen aushalten müssen. Denn Jobcenter sind in den Augen mancher die, die armen Menschen Geld streichen, wenn die mal für 50 Euro nebenbei putzen gehen. Zum anderen sollten Mitarbeitende immer einen Sinn in ihrem Tun erkennen. Bei der Sinnstiftung helfen klare Leitbilder.

Michael Knapp: Bei uns haben wir das Leitbild klar definiert. Unsere Mission lautet: „Gute Arbeit. Für Menschen.“ Unsere Vision ist: „Herausragende Qualität und partnerschaftliches Miteinander zeichnen uns als sozialen Dienstleister aus.“ 

Servicestelle SGB II: Wie setzen Sie das um?

Michael Knapp: Nach unserem Selbstverständnis sind Führungskräfte auch Dienstleister für Beschäftigte. Ich bezeichne mich gerne als Feelgood-Manager. Wir setzen auf Selbstverantwortung und Beteiligung.

Frank Ulmer: Mich würde interessieren, was Sie sich wünschen.

Michael Knapp: Von der Politik wünsche ich mir Rechtsvereinfachungen. Die sind lange überfällig.

Frank Ulmer: Da sprechen Sie etwas Wichtiges an. Rechtsvereinfachungen können auch Kosten einsparen. Die Vereinfachungen sollten allerdings von weiteren Programmen zur Mitarbeiterqualifikation flankiert werden und von starken Leitbildern wie dem vom Jobcenter Kreis Segeberg. Dann können Jobcenter und die einzelnen Mitarbeitenden das Mehr an Spielräumen optimal nutzen.

Michael Knapp: Unser Regelungssystem ist auf Einzelfallgerechtigkeit ausgelegt. Vieles, was meine Mitarbeitenden entscheiden, wird intensiv von Sozialgerichten überprüft. Das erzeugt Druck. Ich stärke den Kolleginnen und Kollegen immer wieder den Rücken mit unserem Leitbild: „Gute Arbeit. Für Menschen.“ Wir wollen Problemlöser sein. Ich sage ihnen: „Macht, was ihr für das Richtige haltet und was nicht verboten ist.“

Servicestelle SGB II: Das klingt beinahe nach „Macht doch, was ihr wollt“.

Michael Knapp: Das ist natürlich nicht so. Für Menschen da zu sein, bedeutet auch für die Steuerzahlenden da zu sein. Wir verschwenden kein Geld. Nur, manchmal steht die beste Lösung nicht exemplarisch im Gesetz. Ich wünsche mir Beschäftigte, die wie Trüffelschweine auf der Suche sind nach Ermessensspielraum – sofern der unserem Ziel dient, Menschen in gute Arbeit zu bringen. 

Servicestelle SGB II: Ein Beispiel?

Michael Knapp: Vielleicht braucht der Langzeitarbeitslose kein Bewerbungstraining. Vielleicht sind seine kaputten Schneidezähne das zentrale Vermittlungshemmnis. Unser Rechtssystem bietet die Möglichkeit, dass wir ihm eine Behandlung finanzieren – wenn die Mitarbeitenden den Mut haben und es begründen. Das erfordert Mitarbeitende, die gut qualifiziert sind, selbstbewusst, die unsere Mission verstanden haben und sich nicht hinter Paragrafen verschanzen.

Servicestelle SGB II: Wie werden Mitarbeitende zu „Trüffelschweinen“?

Frank Ulmer: Sie brauchen Rückhalt und Vertrauen von oben, damit die Angst vor persönlichen Entscheidungen schwindet. Ein gemeinsam getragenes Ziel oder Leitbild ist wichtig, damit das Trüffelschwein weiß, wonach es sucht.

Servicestelle SGB II: Wie schaffen Sie ein Umfeld des Vertrauens, Herr Knapp?

Michael Knapp: Indem hier jeder seine Meinung sagen kann und auch muss. Wir erarbeiten Ergebnisse gemeinsam.

Frank Ulmer: Mitarbeitende müssen sich trauen, Fehler zu machen. Das wird häufig missverstanden. Niemand soll unbedingt Fehler machen. Es geht darum, Prozesse zu installieren, um eine lernende Institution zu werden. Aus Fehlerkultur entsteht Feedbackkultur. Eine positiv erlebte Feedbackkultur ist sehr hilfreich, um Vertrauen zu entwickeln. Insbesondere dann, wenn etwas schiefgegangen ist.

Servicestelle SGB II: Wann funktioniert Feedbackkultur?

Frank Ulmer: Wenn Mitarbeitende erleben, dass ein gemachter Fehler der ganzen Organisation bei der Weiterentwicklung hilft. Der Rahmen hierfür kann eine zweiwöchentliche Teambesprechung sein, die nach speziellen Mustern moderiert wird. Diese Art des regelmäßigen Austauschs ist online wie offline möglich. Zusätzlich helfen transparente Prozesse: Je schneller ein Fehler entdeckt wird, desto besser kann man daraus lernen. Natürlich gibt es auch Fehler, aus denen der Einzelne oder das Team nichts Positives mitnimmt. Allerdings sollte dieser Gedanke nicht die Zusammenarbeit dominieren, wenn Vertrauen entstehen soll.

Servicestelle SGB II: Wie sieht Feedbackkultur in Segeberg aus?

Michael Knapp: Wir stellen uns seit Jahren Zertifizierungen. Nach diesem Vorbild haben wir interne Audits eingeführt. Aktuell haben sich dafür 14 Beschäftigte aus verschiedenen Bereichen und Hierarchieebenen freiwillig gemeldet. Dann fahren also Frau Schmidt vom Standort Norderstedt und Herr Müller vom Standort Kaltenkirchen gemeinsam zum dritten Standort Bad Segeberg. Dort führen sie Interviews, sichten Unterlagen und kommunizieren mit den Kollegen vor Ort. Wie macht ihr das, wie findet ihr es, klappt es so wie in unserem Prozessatlas beschrieben, was braucht ihr noch? Da geht es eben nicht um Kontrolle und Sanktionen. Wir schauen gemeinsam, ob wir das, was von uns verlangt wird, mit unseren Hilfsmitteln erledigen können und wo wir etwas verändern müssen.

Servicestelle SGB II: Wie werden Sie 2021 arbeiten?

Michael Knapp: Ich hoffe, dass wir all die guten Erfahrungen aus der Coronazeit übernehmen können. Das betrifft vor allem das Homeoffice, aber auch die digitalen und telefonischen Zugangskanäle. In unserem Alltag ist die persönliche Beratung wichtig, aber vieles funktioniert auf Distanz auch sehr gut.

Frank Ulmer: Der Blick richtet sich jetzt auf Menschen, die unfreiwillig zu Hause arbeiten. Hier empfehle ich einen Workshop, in dem die Betroffenen erzählen, was ihr Wohlbefinden zu Hause steigern könnte. Ich rate auch, gemeinsam festzulegen, wie häufig persönliche Treffen stattfinden müssen. Ja, hier kommen doch wieder neue Regeln. Moderne Verwaltung bedeutet nicht, dass jeder macht, was er will. Nein, es gibt Leitplanken. Zwischen ihnen arbeiten alle flexibel und kreativ.

Michael Knapp leitet das Jobcenter Kreis Segeberg seit rund zehn Jahren. 210 Beschäftigte arbeiten an drei Standorten. Der frühere Marineoffizier erprobt im Jobcenter schon seit 2012 Methoden der agilen Verwaltung. Er setzt dabei auf das Organisationsmodell der European Foundation for Quality Management (EFQM).

Frank Ulmer ist Wissenschaftler im gemeinnützigen Stuttgarter Forschungsunternehmen Dialogik. Er berät in Transformations- und Beteiligungsprozessen. Der Diplom-Geograf hilft Verwaltungen dabei, agiler zu werden. Ulmer bezieht dabei Mitarbeitende, Bürgerinnen und Bürger sowie Stakeholder mit ein.