Herr Prof. Linke, Sie waren mehrere Jahre Sozialarbeiter in der Leipziger Jugendhilfe. Was ist die Grundvoraussetzung, um vertrauensvoll mit Menschen in prekären Lebenslagen zu arbeiten?
Entscheidend ist, wie Fachkräfte den Menschen gegenübertreten. Wer im Jobcenter arbeitet, hat häufig mit Personen zu tun, die ihren Arbeitsplatz verloren und biografische Brüche erlebt haben. Es ist wichtig, den Menschen trotzdem Respekt zu zeigen und eine Anerkennung für das, was sie im Leben geleistet haben. Nur mit Respekt und Anerkennung kann – trotz der Hierarchie zwischen Fachkraft und Kund*in – eine vertrauensvolle Arbeitsbeziehung entstehen.
Also: Augenhöhe schaffen?
Augenhöhe kann es im strukturellen Sinne nicht geben. In der sozialen Arbeit und im Jobcenter gibt es immer ein Machtgefälle. Es ist wichtig, dies transparent zu machen – und als Fachkraft dennoch den Menschen zu akzeptieren, wie er vor einem sitzt. Ihm möglichst nichts überzustülpen, kein fertiges Hilfsangebot auf den Tisch legen. Ganz am Anfang muss die Frage stehen: „Welche Wünsche, Ziele, Bedürfnisse bringen Sie mit?“
Sie sagen: Profis können eine vertrauensvolle Arbeitsbeziehung erarbeiten. Wie läuft so etwas idealerweise ab?
Das lässt sich in sozialer Arbeit nie pauschal sagen. Eine wichtige Frage lautet: Kommt die Person freiwillig in die Institution, fühlt sie sich gezwungen, gedrängt oder vielleicht sogar verpflichtet? Vielleicht wagen wir mal einen Blick in die Theorie, auf die verschiedenen Formen von Vertrauen. Der Soziologe Niklas Luhmann hat differenziert in generalisiertes Vertrauen und persönliches Vertrauen. Sabine Wagenblass hat noch weiter unterschieden in Systemvertrauen, spezifisches Vertrauen und persönliches Vertrauen.
Wie bildet sich das?
Das persönliche Vertrauen ist stark abhängig von Merkmalen wie etwa Alter und Geschlecht. Es kann passieren, dass sich die Fachkraft in ihrer professionellen Rolle bemüht, aber kein persönliches Vertrauen entsteht, weil das Gegenüber einen für zu jung oder zu alt hält. In so einem Fall ist es sinnvoll innerhalb eines Teams andere Ansprechpartner*innen zu finden. Am spezifischen Vertrauen aber kann die Fachkraft selbst arbeiten – durch Anerkennung, Respekt und indem sie das Gegenüber im Prozess partizipieren lässt.
Es heißt häufig: Die ersten Sekunden des Kennenlernens prägen das Bild von einem Menschen. Entsteht auch spezifisches Vertrauen im Erstkontakt – oder wird dort zerstört?
Zerstört ist vielleicht etwas zu stark. Aber natürlich spielt der erste Kontakt eine ganz entscheidende Rolle für die Zusammenarbeit. Wichtig ist dort, zuzuhören. Der Person von Beginn an Raum zu geben und nicht zu viel selbst zu agieren. Zu signalisieren: Ich will nicht nur einen Fall abarbeiten, sondern bin an Ihnen als Mensch interessiert. Man darf nicht vergessen: Ins Jobcenter kommen viele Menschen, die im Laufe ihrer Biografie verschiedene Brüche erlebt haben, Stigmatisierung und Diskriminierung. Sie haben vielleicht schon als Kind Gewalt erlebt und die Auswirkungen zeigen sich noch 20 Jahre später. Diese Erfahrungen können zur Irritation von Vertrauen in Institutionen führen bis hin zu Misstrauen.
Das wäre dann die dritte Dimension: das Systemvertrauen.
Fachkräfte müssen immer damit rechnen, dass ihnen Menschen gegenübersitzen, die erst mal verschlossen sind – weil sie sich vor Enttäuschungen schützen wollen.
Lassen sich Menschen zurückgewinnen, die das Systemvertrauen verloren haben?
Das ist schwierig, aber funktioniert. Man darf nicht zu viel erwarten, man kann nur ein Angebot machen und Menschen einladen. Für diesen Prozess braucht es dann viel Zeit. Wenn es da sofort um Ziele geht wie Rückkehr in die Erwerbstätigkeit, besteht das Risiko, dass die Menschen abbrechen, sich abwenden und das Misstrauen noch stärker wird. Zeit ist aber in Institutionen oftmals nicht vorhanden. Wenn das System zu arbeiten beginnt, sind die Abläufe oft schneller, als sich Menschen entwickeln können. Das führt zur Überforderung und zum Vertrauensverlust. Zum Gefühl von „Ich bin nicht gut genug“. Momente des Vertrauensaufbaus sind immer sensibel.
Und nun haben wir die Situation, dass diese sensiblen Momente zunehmend nicht mehr face-to-face stattfinden. Kann Vertrauen vor dem Smartphone-Screen entstehen?
Das hängt von der Einstellung der Professionellen ab. Wir sind es in Deutschland nicht gewohnt, digitale Möglichkeiten für soziale Arbeit zu nutzen. Es gibt Länder, die haben in Online- und Telefonberatung mehr und auch gute Erfahrungen. Hierzulande müssen die Professionellen erst einmal mit den technischen Möglichkeiten zurechtkommen. Nun ist es schwer, Menschen Sicherheit und Struktur zu vermitteln, wenn man selbst unsicher ist. Deshalb halte ich es für wichtig, Fachkräfte konsequent zu schulen. Wer die technische Hürde überwunden hat, kann auch im Digitalen sehr gut beraten und Vertrauen aufbauen. Digitale Kontakte können nicht alles ersetzen, aber oft ergänzen.
Sollte der Erstkontakt immer persönlich vor Ort stattfinden?
Nicht unbedingt. Es gibt durchaus Menschen, die sich in digitalen Settings wohler fühlen als in der Institution vor Ort. Sie empfinden digitale Distanz als angenehm. Das sind konkrete Erfahrungen, die mir Studierende aus ihren Praktika und Kolleg*innen in der Coronazeit berichtet haben.
Wie kann in der künstlichen Kamerasituation eine vertrauensvolle Arbeitsbeziehung wachsen?
Die grundlegenden Kriterien sind wie beim Kontakt vor Ort: Respekt zeigen, Anerkennung, zuhören. Das zu übersetzen ins Digitale ist eine Leistung, die eine Fachkraft erbringen muss. Ich als Professor musste 100 Prozent digitale Lehre machen, obwohl ich gerne mit Studierenden im Seminarraum arbeite. Aber es gehört zum Job, sich auf Neues einzulassen. Ich würde immer empfehlen, offen, ehrlich und authentisch zu sagen: „Ich bin für Sie da, aber es kann alles etwas ruckeln.“ So eine kleine Schwäche zu zeigen ist menschlich und hilft, Vertrauen entstehen zu lassen.