Herr Schulze-Böing, Sie und Prof. Rübner haben im November 2024 den Sammelband „Gut beraten im Jobcenter?“ veröffentlicht. Was hat Sie dazu bewegt, dieses Projekt umzusetzen?
Matthias Schulze-Böing: Beratung ist der fachliche Kern dessen, was Jobcenter tun, um Menschen zu unterstützen und aus Notlagen zu helfen. Das ist mit dem Bürgergeld-Gesetz nochmal mehr in den Fokus gerückt. Gleichzeitig gibt es zu diesem Thema relativ wenig Forschungsliteratur. Konkreter Anlass für das Buch war die Tagung der Reihe Netzwerk SGB II im Jahr 2022. Die Referierenden und ich fanden die Beiträge der Tagung so interessant, dass Herr Rübner und ich uns entschlossen haben, einen Sammelband zu erstellen. Neben den Referierenden der Tagung konnten wir weitere namenhafte Autorinnen und Autoren, auch aus dem internationalen Kontext, für das Buch gewinnen.
Hier gelangen Sie zum Sammelband.
Was macht Ihrer Meinung nach gute Beratung aus und woran misst sich das?
Matthias Schulze-Böing: Gute Beratung bemisst sich an dem Ergebnis. In den Jobcentern bedeutet das: Gelingt es wirklich, Menschen in Arbeit zu bringen und ihre Lebenssituation zu verbessern, sie zu qualifizieren oder beschäftigungsfähig zu machen? Weiter geht es darum, Menschen mit Respekt anzusprechen und sie da abzuholen, wo sie stehen. Gute Beratung muss prozessorientiert und ergebnisorientiert sein. Aus meiner Sicht sind das die beiden wichtigsten Faktoren.
Herr Kaltofen, Pandemie, Bürgergeld-Gesetz und Krieg in Europa haben die Jobcenter in den letzten Jahren vermehrt vor neue Herausforderungen gestellt. Wie können die Jobcenter trotzdem gut beraten?
Jan Kaltofen: Wir haben im Jobcenter Halle (Saale) sehr intensive Diskussionen dazu geführt. Ich glaube, die Herausforderung ist, dass wir uns besonders in schwierigen Situationen immer wieder fragen: Welche Gedanken beschäftigen die Leistungsbeziehenden? Und mit welchen Bedarfen kommen sie zu uns? Das hat etwa in der Pandemie dazu geführt, dass wir neue Methoden entwickelt haben. Denn die Menschen haben trotz der Distanz erwartet, dass wir regelmäßig mit ihnen sprechen. Es geht demnach darum, veränderte Bedarfslagen zu erkennen und die Prozesse im Jobcenter entsprechend anzupassen. Damit das gelingt, ist vor allem eines wichtig: miteinander reden, im Idealfall persönlich und regelmäßig und falls nötig mit der Unterstützung von Dolmetscherinnen und Dolmetschern.
Herr Schulze-Böing, Sie haben der ganzheitlichen Beratung einen ganzen Beitrag in Ihrem Buch gewidmet. Welche Voraussetzungen müssen erfüllt sein, damit ganzheitliche Beratung gelingt?
Matthias Schulze-Böing: Der ganzheitliche Ansatz hat in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen. Wir haben es mit Problemlagen zu tun, die sich nicht allein darauf reduzieren, dass die Menschen keinen Job haben. Für die Integration spielen verschiedene Faktoren eine Rolle, zum Beispiel die Kinderbetreuung oder Fluchterfahrungen. Da ist es wichtig, nicht nur die einzelne Person, sondern auch das soziale und familiäre Umfeld mit in den Blick zu nehmen. Hierfür braucht es Beratungsfachkräfte mit methodischen Kenntnissen und besonderem Fachwissen. Die Qualifizierung der Mitarbeitenden und Supervision sind hier wichtige Faktoren, um dies zu gewährleisten. Ganzheitliche Beratung ist zudem zeitaufwendig, denn man muss sich mit vielen Themen beschäftigen. Da sollte der Fokus nicht aus den Augen verloren gehen und genau geprüft werden, wann der Ansatz zielführend ist. Damit das gelingt, muss ganzheitliche Beratung in der Organisationsstruktur eingebettet und die Ressourcen dafür vorhanden sein. Auch das lokale Netzwerk zu externen Partnern ist notwendig, etwa zu Jugend- oder Gesundheitsämtern.
Herr Kaltofen, Sie haben 2018 in ihrem Jobcenter einen breiten Veränderungsprozess angestoßen. Welche Ziele haben Sie dabei verfolgt?
Jan Kaltofen: Die Jobcenter und viele Agenturen für Arbeit kamen damals aus einer Praxis der „Massenverwaltung“. Das hieß: Antrag stellen, diesen im Idealfall zügig bearbeiten und Leistungen bewilligen. Inzwischen gibt es andere Anforderungen. Beratungsfachkräfte sollen heute den Leistungsbeziehenden helfen, die Anträge zu verstehen, Rückfragen beantworten, die Menschen beraten. Das war für uns der Anlass, die Antragsverfahren zu verkürzen, Bescheide verständlicher zu machen und vor allem für die Bürgerinnen und Bürger ansprechbar zu sein. Hier haben wir für unser Jobcenter zwei wichtige Punkte identifiziert: Zunächst muss den Mitarbeitenden klar sein, dass Leistungen und Vermittlung zusammengehören. Das Eine geht nicht ohne das Andere. Außerdem stellte sich zum damaligen Zeitpunkt heraus, dass wir die Mitarbeitenden nochmal zu den Grundlagen der Beratung schulen mussten, insbesondere im leistungsrechtlichen Bereich. Beide Ansätze haben wir im Jobcenter Halle (Saale) seit 2018 erfolgreich umgesetzt.
Der Sammelband zeigt noch weitere Praxiskonzepte, Erfahrungsberichte und gute Praxis auf. Welche Ansätze sind Ihrer Meinung nach besonders zukunftsweisend, Herr Schulze-Böing?
Matthias Schulze-Böing: Es gibt nicht den einen Königsweg. Die Situationen der Menschen, die ins Jobcenter kommen, sind sehr vielfältig. Hier muss jede Region für sich herausfinden und prüfen, was die Menschen vor Ort brauchen. Neben der ganzheitlichen Beratung sehe ich in der aufsuchenden Beratung großes Potenzial. Dorthin zu gehen, wo die Leistungsbeziehenden sind, schafft Verständnis und Vertrauen. Ich habe zum Beispiel 2022 ein Projekt in Hessen koordiniert, das Familiennachmittage für Kinder veranstaltet hat. Während eine Beratungsfachkraft sich um die Kinder kümmerte, konnte eine Zweite mit den Eltern sprechen. Natürlich ist es nicht die Aufgabe der Jobcenter, die Kinderbetreuung zu übernehmen. Doch die Erfahrung war, dass wir die Eltern auf diesem Weg besser erreichen und unterstützen konnten. Gleichzeitig konnten sich die Erwachsenen vernetzen und einander Tipps geben.
Herr Kaltofen, haben Sie eine Erfolgsgeschichte für uns, bei der Ihr Jobcenter mit guter Beratung Menschen in Arbeit vermittelt hat? Was waren dabei die Erfolgsfaktoren?
Jan Kaltofen: Wir haben bereits viele Erfolgsgeschichten sammeln können, darunter die des 19-jährigen Jonas B. Als unsere Mitarbeitenden ihn kennenlernten, lebte er auf der Straße. Er hatte seine Ausbildung abgebrochen und seine Eltern hatten ihn rausgeworfen. Der erste Kontakt entstand damals über Streetwork und auch die ersten Beratungsgespräche fanden außerhalb des Jobcenters statt. Wir haben ihn dann bei der Antragstellung unterstützt, sodass er in den Leistungsbezug kam und eine eigene Wohnung finden konnte. Und seit fast zwei Jahren geht er jetzt einer geförderten Beschäftigung nach, was wir mit regelmäßigem Coaching begleiten.
Über Matthias Schulze-Böing
Dr. Matthias Schulze-Böing war bis Ende 2020 Leiter des Amtes für Arbeitsförderung, Statistik und Integration der Stadt Offenbach am Main und zugleich Geschäftsführer des kommunalen Jobcenters MainArbeit. Zurzeit arbeitet er als Berater für die Stadt Offenbach und ist Vorsitzender und wissenschaftlicher Leiter der Gesellschaft für Wirtschaft, Arbeit und Kultur e. V. (GEWAK) in Frankfurt am Main.
Über Jan Kaltofen
Jan Kaltofen ist Geschäftsführer des Jobcenters Halle (Saale). Im Sammelband „Gut beraten im Jobcenter?“ hat er einen eigenen Beitrag veröffentlicht: „Leistungsberatung im Jobcenter – das Warum entscheidet. Ein Erfahrungsbericht aus dem Jobcenter Halle (Saale)“.
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