Wenn Dr. Johannes Kleine über sein Team redet, sind die Parallelen zu einem Startup unübersehbar: Kleine spricht von Pitches, Ramps und Coworking – und immer wieder von Planänderungen. Tatsächlich ist das Team Automotive auch ein Startup, jedoch innerhalb einer Behörde oder besser gesagt: zwischen mehreren Behörden. Denn Jobcenter und Arbeitsagenturen aus Brandenburg und Berlin haben das Team gemeinsam gebildet, um einen Kraftakt zu vollbringen: In Zeiten des Arbeitskräftemangels wollen sie tausende Stellen für ein neues Automobilwerk besetzen – in einer Region fast ohne Autoindustrie.
Bislang ist dies mit herausragendem Erfolg gelungen: Bis Ende Juli 2022 vermittelte das Team Automotive um Johannes Kleine 722 vormals Arbeitslose, davon kamen 364 aus dem Bezug von SGB-II-Leistungen. Rechnet man weitere Arbeitsuchende hinzu, konnten Arbeitsagenturen und Jobcenter 1.200 Personen in gut bezahlte Jobs vermitteln. Die Zahlen ändern sich täglich – nach oben. Denn noch hat nicht einmal die Hälfte der geplanten Belegschaft angefangen. Von mindestens 12.000 Jobs ist die Rede in der ersten Ausbaustufe des Werks, 8.000 Beschäftigte sind das Zwischenziel bis Ende des Jahres 2022. Für Brandenburg sei dies Erfolg und Herausforderung zugleich
, sagt Staatssekretär Hendrik Fischer aus dem Ministerium für Wirtschaft, Arbeit und Energie des Landes Brandenburg – und verweist stolz auf die zahlreichen Vermittlungen: Dass dies gelungen ist, ist auch ein Verdienst von Arbeitsagentur und Jobcenter.
Einfach mal machen – „Tabula Rasa auf beiden Seiten“
Wie ist das „Behörden-Startup“ entstanden? Durch einen Pitch, erzählt Jochem Freyer, Leiter der Arbeitsagentur Frankfurt (Oder), also eine Ideenpräsentation vor Vertreterinnen und Vertretern des Unternehmens. Die Agentur überlegte sich kurz nach der Ankündigung des amerikanischen Investors, ein riesiges E-Autowerk zu bauen, wie ein passender Arbeitgeberservice in dieser Größenordnung aussehen müsste. Eine besondere Herausforderung war, dass wir wegen des ersten Lockdowns im April 2020 virtuell präsentieren mussten
, sagt Freyer. Der Pitch kam gut an. Das Unternehmen sagte schnell zu. Freyer blickt zurück: Es war Tabula Rasa auf beiden Seiten. Wir wussten wenig über das Unternehmen und das Unternehmen wenig über uns. Aber genau das war gut, weil es keine Abhängigkeiten gab.
Johannes Kleine hat promoviert und einst ein Startup mitgegründet. Seit 2019 ist er bei der Bundesagentur für Arbeit, seit 2021 Bereichsleiter in Frankfurt (Oder).
Das frisch entstandene Team Automotive zog im September 2020 beim Unternehmen ein. Es hatte sich in einem Coworking-Space am Berliner Ostbahnhof eingemietet. Agentur- und Jobcenter-Mitarbeitende saßen dort plötzlich Tisch an Tisch mit Ingenieuren, die noch am Design der Fertigungslinien arbeiteten. Wir haben erst einmal Beziehungsarbeit betrieben und die Frage geklärt, wie die deutsche Behörde dem amerikanischen Unternehmen konkret helfen kann
, erinnert sich Projektleiter Johannes Kleine. Wir haben zum Beispiel gemeinsam überlegt, wie wir die Immigration für Fachkräfte aus dem Ausland gestalten können. Oder wie wir Zulieferbetrieben helfen, die in ganz Europa noch keine Dependance haben und keine Ahnung vom deutschen Arbeitsmarkt.
Arbeitsvermittler arbeiten häufig mitten im Autowerk
Wie war es überhaupt möglich, so schnell ein Team Automotive zusammenzustellen? Die Agentur für Arbeit und das Jobcenter Frankfurt (Oder) bündelte Kräfte mit den drei Berliner Arbeitsagenturen Nord, Süd und Mitte, den Jobcentern Lichtenberg, Mitte und Neukölln sowie Märkisch-Oderland. Die einzelnen Organisationen entsandten Kräfte in das Team, das aus zehn Köpfen besteht (Stand August 2022) und dessen Besetzung flexibel wechselt. Eine Zusammenarbeit gibt es außerdem mit dem Kommunalen Jobcenter im Landkreis Oder-Spree, wo auch die Fabrik steht.
Das Team Automotive arbeitet bis heute flexibel: An zwei Tagen zusammen an einem Ort, an den anderen Tagen aus den Agenturen und Jobcentern oder aus dem Homeoffice. Die Tage im Coworking-Space sind längst vorbei. Nach einer Zeit in einem Bürocontainer auf der Baustelle des Autowerks arbeitet das Team Automotive inzwischen im Treehouse – einer Bürofläche im Hauptgebäude des Automobilwerks.
So findet das Team Arbeitskräfte:
Interessierte weiterleiten
Mitarbeitende aus Arbeitsagenturen und Jobcentern überstellen dem Team laufend mögliche Bewerberinnen und Bewerber. Ein Teammitglied kontaktiert die Arbeitsuchenden mit ersten Informationen zu den angebotenen Jobs. Danach findet ein „Vorbriefing“ in Form einer Gruppenveranstaltung statt, in der Regel in Räumen der Arbeitsagenturen. Wer weiterhin infrage kommt, erhält eine Einladung ins Werk. Wir holen die Bewerberinnen und Bewerber am Tor ab und gehen in den 1. Stock. Dort findet ein Interview statt: Jemand von uns und ein Schichtleiter spricht mit dem Bewerber.
In diesen Assessments werden immer wieder Erfolge sichtbar, sagt Kleine: Erst neulich hat eine Schichtleiterin mit uns zusammen die Interviews geführt, die wir vor ein paar Monaten zum Unternehmen vermitteln konnten.
Im Bestand suchen
Die Mitglieder des Automotive-Teams bitten Kolleginnen und Kollegen aus ihren Agenturen und Jobcentern regelmäßig, mögliche Kandidatinnen und Kandidaten zu schicken. „Binnen-Netzwerkarbeit“ nennt Johannes Kleine dies. „Die Jobcenter, die freiwillig ihre Mitarbeitenden zu uns entsenden, schicken auch einen Botschafter oder eine Botschafterin. Sie wirken in ihr Jobcenter hinein und sorgen dafür, dass stetig Vorschläge an uns weitergegeben werden.“ Das Team macht zudem mit einem internen E-Mail-Newsletter auf sich aufmerksam. Es gibt außerdem offene Meetings per Videokonferenz und eine werktäglich besetzte Hotline.
Kreative Lösungen finden
In Berlin-Neukölln schloss ein Zigarettenwerk. Das Team Automotive schaute, wer aus der Belegschaft noch auf Jobsuche war. Viele Mitarbeitende haben Maschinen bedient, die Zigaretten wickeln
, sagt Kleine, wir suchen nun zum Beispiel Maschinenführer für Batterien, die ebenfalls gewickelt werden.
Überregionale Kontakte nutzen
Das Team Automotive hält Ausschau, ob es Arbeitsuchende an anderen Standorten der Automobilindustrie gibt. Einige Ostdeutsche sind wegen der Arbeit weggezogen. Manche nutzen jetzt die Gelegenheit, um zurückzukehren
, sagt Kleine. Seine Kolleginnen und Kollegen pflegen hierzu Kontakte in verschiedene Bundesländer.
Vor Ort anwerben
Team Automotive und das Unternehmen gehen gemeinsam zu Veranstaltungen. Als in der Region ein Produzent von Windkrafttürmen sein Werk schloss, fuhren die Partner zu einer kurzfristig einberufenen Jobmesse ins Rathaus Fürstenwalde – um in direkten Gesprächen mit den Mitarbeitenden passende Jobs im Autowerk zu finden.
Jobcenter qualifiziert potenzielle Bewerber ganz gezielt
All diese Arbeit zahlt sich auch für die beteiligten Jobcenter aus, berichtet Lutz Neumann, Geschäftsführer des Jobcenters Berlin Lichtenberg: Schlüssel zum Erfolg war die frühzeitige Zusammenarbeit auf allen Ebenen bereits bei der Bekanntgabe der Entscheidung des amerikanischen Unternehmens für den Produktionsstandort in Brandenburg.
Geschäftsführung und Führungskräfte im Jobcenter Berlin Lichtenberg begleiten die Kooperation mit dem Team Automotive eng. Konkret vor Ort sind zwei Integrationsfachkräfte aus meinem Haus
, sagt Neumann. Im Hintergrund wirken darüber hinaus fünf Beschäftigte, die auf die Beratung und aktive Unterstützung von Arbeitgebern bei der Arbeits- und Fachkräftesicherung spezialisiert sind, als Schnittstelle zu den rund 200 Arbeitsvermittlerinnen und Arbeitsvermittlern. Durch die Kooperation, die sich durch offene Kommunikation und kurze Wege auszeichnet, sind wir ganz nah dran.
Das Jobcenter Berlin Lichtenberg initiierten einen "Markt der Möglichkeiten". Geschäftsführer Lutz Neumann begrüßte hierzu auch Mitarbeiterinnen des E-Auto-Herstellers.
Das Jobcenter könne so die passenden Bewerberinnen und Bewerber gezielt ansprechen und für offene Stellen qualifizieren. Die Leistungsberechtigten profitieren von dem systematischen Beratungsprozess und werden in gute Arbeit vermittelt
, erzählt Neumann. Als Jobcenter lernen wir jeden Tag dazu: Durch den Aufbau von berufskundlichen Kenntnissen, aber vor allem auch durch die agilen Arbeitsformen, die die Kooperation mit dem Team Automotive prägen.
Diese Erfahrungen helfen auch beim Ausbau von anderen Netzwerken zur Arbeits- und Fachkräftesicherung. Ein ähnliches Bündnis von Arbeitsagenturen und Jobcentern etabliert sich inzwischen auch für das Flughafenumfeld BER, zu dem auch der Technologiepark Adlershof gehört. Neumann resümiert: In Zeiten des Wandels macht uns dies zukunftsfähiger.
Apropos Zukunft: Bereits im Studien- und Ausbildungsjahr 2021/2022 begannen neun Studierende beziehungsweise Auszubildende im Automobilwerk in Grünheide. Dieses Engagement soll in diesem Jahr deutlich ausgebaut werden
, sagt der brandenburgische Staatssekretär Hendrik Fischer. Ziel sind 145 Auszubildende und dual Studierende.
Das E-Auto-Unternehmen wäre damit nicht nur die größte Industrieansiedlung, sondern voraussichtlich auch der größte Ausbildungsbetrieb in der Region.
Hat Ihr Jobcenter oder Ihre Arbeitsagentur Interesse an einer Zusammenarbeit – oder generelle Fragen? Dr. Johannes Kleine und sein Team freuen sich über eine E-Mail.