Das Votum der Teilnehmenden fällt eindeutig aus: Auch nach fast zwei Pandemie-Jahren stehen die Signale auf „Ausprobieren“. In einem Workshop-Raum des Tagungszentrums Cafe Moskau blicken 20 Jobcenter-Mitarbeitende auf drei Flipcharts. „Keep“, „drop“, „try“ steht auf ihnen – „behalten“, „aufgeben“, „ausprobieren“. Die weißen Tafeln füllen sich schnell mit farbigen Stichwort-Karten. Aber nicht alle Tafeln gleichermaßen: Die meisten Jobcenter-Mitarbeitenden wollen Neues aus der Corona-Zeit behalten und noch mehr ausprobieren. „Keep“ und „try“ dominieren.
Die Szene aus dem Workshop-Raum steht symbolisch für die ganze Jahreskonferenz der Netzwerke ABC mit dem Titel „Auf Augenhöhe – Vertrauenskultur und Partizipation“. Am 10. und 11. November 2021 tauschten sich Fachleute aus der Jobcenter-Welt aus und hatten sich sehr viel zu erzählen. Es war die erste Präsenztagung nach langer Zeit. Die vorigen Monate vergingen in den meisten Jobcentern wie im Zeitraffer. Sie mussten improvisieren, um Lockdowns zu meistern, Homeoffice zu ermöglichen und neue Beratungsformen auf die Beine stellen.
Jahreskonferenz Netzwerke ABC in Berlin.
Die Jahreskonferenz der Netzwerke ABC fand 2021 im Cafe Moskau in Berlin statt.
Empfang Jahreskonferenz.
Check-In unter 2G-Regelungen.
Chancenhefte auf Jahreskonferenz.
Die chancen-Magazine 2020 und 2021 wurden bei der Jahreskonferenz ausgelegt.
Teilnehmende Jahreskonferenz.
Teilnehmende eines Workshops hören der Moderation zu.
Jahreskonferenz Nacht.
Blick in die Workshopräume von der anderen Seite des Cafe Moskau aus gesehen.
Gregor Kalchthaler Jahreskonferenz.
Gregor Kalchthaler vom Unternehmen Intraprenör gab einen Input zum Thema „Gut flexibel Arbeiten zwischen Home-Office und Präsenz“.
Netzwerkabend Jahreskonferenz.
Teilnehmende beim Netzwerkabend im Speisesaal des Cafe Moskau.
Jahreskonferenz Workshops.
Teilnehmende besprechen sich während eines der Workshops.
Podium Jahreskonferenz.
v. r.: Ralf Holtkötter, Norbert Kliesch und Sabine Kupferschmidt im Austausch mit Hanno Burmester.
Diskussion Teilnehmende.
Das Publikum im Austausch mit den Podiumsteilnehmenden.
BMAS im Podium.
Das BMAS antwortete auf Fragen der Teilnehmenden.
Teilnehmende im Gespräch.
Gespräche zwischen Teilnehmenden im Plenarsaal des Cafe Moskau.
Top-Gesprächsthemen: Digitale Tools und Veränderungen im Beratungsalltag
Videoberatung ist ein Punkt, den viele in der Pandemie probierten und auch langfristig beibehalten wollen. Wer es noch nicht hat, würde es gerne probieren. Erfahrungen aus mehreren Jobcentern hat das aktuelle chancen-Magazin zusammengetragen, das zur Konferenz erschien.
Der Wunsch nach „behalten“ oder „ausprobieren“ gilt ebenso für die Online-Terminierung für Leistungsberechtigte. Ein weiterer Wunsch aus der Workshop-Runde: mehr Wahlfreiheit, welche digitalen Tools das Jobcenter verwenden darf. Ganz besonders einig sind sich die Teilnehmenden bei einem der wenigen Dinge, die sie gerne aufgeben würden: Datenschutz-Diskussionen, die im Alltag der Einführung vieler hilfreicher Tools im Wege stünden. Auch Begriffe wie „Beratung auf Augenhöhe“, „Respekt“, „einfache Sprache“ und die Frage „Sind Sanktionen noch zeitgemäß?“ finden sich auf den Stichwort-Karten der Arbeitsgruppen.
Einig waren sich die Teilnehmenden eines weiteren Workshops, dass die Pandemie ein Umdenken für den Beratungsalltag gebracht hat. Beratung müsse immer geprägt sein von dem Verständnis, dass auf beiden Seiten des Jobcenter-Schreibtisches Menschen sitzen. Durch eine Kommunikation auf Augenhöhe lässt sich viel Vertrauen aufbauen, etwa durch den Verzicht auf eine Rechtsfolgenbelehrung (RfB) in einem Einladungsschreiben. Workshop-Teilnehmende berichteten auch, dass Termine zuvor immer telefonisch abgesprochen und vereinbart werden. Erst danach erfolgt die schriftliche Einladung ohne RfB. Den Erfahrungen der Teilnehmenden zufolge unterstützt eine einfache und alltagstaugliche Sprache in der Beratung den Vertrauensaufbau zusätzlich. Schließlich weiß kaum jemand, was eine FbW, eine MAT oder ESG ist.
Pandemie hat Jobcenter sensibilisiert
Auf einer der Podiumsdiskussionen erinnerte Yasmin Schilling, BCA im Kommunalen Center für Arbeit des Main-Kinzig-Kreises, dass in der Pandemie die Menschlichkeit noch wichtiger gewesen sei als technische Fragen. Reden und sich Zeit zu nehmen war wichtiger denn je. „Die Corona-Situation hat viele Menschen verzweifeln lassen. Diese Zeit hat uns sensibilisiert“, sagte Schilling und sprach den Kolleginnen und Kollegen großen Respekt aus, diese Zeit gemeistert zu haben. Im Jobcenter brauche es eine Leidenschaft für Menschen statt für Zahlen. Wichtig sei die Arbeit mit den Menschen und deren Ideen auch einfließen zu lassen. Schilling berichtete, kürzlich eine Dankeschön-Karte eines Leistungsberechtigten erhalten zu haben: „Das ist für mich die wahre Zielvorgabe.“ Auch Ilka Burucker aus dem Jobcenter Vogtland sieht das so. Auf die Frage, mit welcher Haltung man eine Beratung auf Augenhöhe möglich macht und Vertrauen aufbaut antwortete sie: „Wir sind alle Menschen.“
Von links: Ilka Burucker (Jobcenter Vogtland), Heike Verbeeten (Jobcenter Köln) und Yasmin Schilling (Kommunales Center für Arbeit, Main-Kinzig-Kreis) im Gespräch.
Aus dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales kam Unterabteilungsleiter Dr. Klaus Bermig, um sich mit den Jobcenter-Mitarbeitenden auszutauschen. Dr. Bermig erinnerte in seiner Rede an die zurückliegende „turbulente Zeit“ und zugleich daran, dass diese noch nicht vorbei sei. „Sie hatten in den Jobcentern die Folgen, Risiken und Nebenwirkungen zu bewältigen. Das ist gut gelungen – man kann es nicht häufig genug sagen.“ Es gelte jetzt, einen guten Übergang in einen neuen und zum Teil vielleicht auch in einen alten Alltag zu gestalten, denn: „Jobcenter spielen eine zentrale Rolle im Sozialstaat.“ Dr. Bermig versicherte, vor dem Hintergrund der Regierungsbildung, dass dies auch so bleibe. Trotz andauernder Diskussionen über Sanktionen und „Abschaffung von Hartz IV“ gelte: „Die Jobcenter werden nicht entkernt. Sie werden zuständig bleiben für die Grundsicherung und dafür, Menschen in Arbeit zu bringen.“ Vertrauen und Partizipation würden in ihrer Bedeutung noch weiter steigen und diese zwischenmenschlichen Beziehungen prägen. Dies gelte für die Verhältnisse sowohl zwischen den Leistungsberechtigten und den Jobcenter-Mitarbeitenden aber auch innerhalb eines Jobcenters zwischen den Mitarbeitenden und beispielsweise der Geschäftsführung.
Homeoffice und neues Arbeiten bleibt Alltag
Um dafür weiter gerüstet zu sein, modernisieren sich Jobcenter im Eiltempo. Ein Beispiel dafür lieferte Geschäftsführer Ralf Holtkötter, der sein Jobcenter Rhein-Sieg in vielen Belangen massiv umgebaut. Alle Mitarbeitenden können die Hälfte ihrer Arbeitszeit im Homeoffice verbringen – zudem entsteht gerade ein Standort ohne feste Plätze, also nur mit flexiblen Schreibtischen für die Mitarbeitenden. Holtkötter sagte selbstbewusst: „Was wollen wir aus der Pandemiezeit beibehalten? Ganz platt gesagt: alles.“ Die Pandemie habe Entwicklungen im Digitalen angestoßen und andere, wie etwa Homeoffice, beschleunigt.
Ralf Holtkötter berichtete von Neuerungen im Jobcenter Rhein-Sieg (links: Norbert Kliesch, Jobcenter Berlin-Spandau).
Arbeitsvermittler Norbert Kliesch aus dem Jobcenter Spandau lobte das fortschrittliche Vorgehen und bestätigte: Homeoffice habe sich in vielen Bereichen des Jobcenters bewährt. Eine Herausforderung sah Kliesch vielmehr in der mangelnden Veränderungsbereitschaft vieler Leistungsberechtigter: „20 Prozent unserer Kunden sind überhaupt nicht vernetzt. Die haben vielleicht nicht einmal einen Rechner.“ Hier müsse über eine bessere Einbeziehung der Kundinnen und Kunden nachgedacht werden. Auch diesem Thema widmet sich das chancen-Magazin: Ein Artikel beschreibt die Pläne des Jobcenters München, Leistungsberechtigte im Digitalen weiterzubilden.
Teilnehmende blicken in hybride und vielfältige Zukunft
Viel zu tun bleibt dennoch auch intern. Referent Gregor Kalchthaler vom Organisationsentwickler Intraprenör war überzeugt, dass die Zukunft der Arbeit hybrid sein wird – das Büro hat Zukunft, aber als sozialer Ort und nicht als einziger Platz zum Arbeiten. Kalchthaler rief dazu auf, die Pandemie nicht als Ausnahme zu begreifen und den Wandel anzuerkennen: „Wer jetzt als Arbeitgeber das Rad zurückdrehen will, wird keine Mitarbeitenden mehr finden.“ Den Jobcentern riet er, im Rahmen des Möglichen kleine Disruptionen zu wagen – etwa mehr Gemeinschaftsflächen zum Austausch und agilen Arbeiten statt Einzelbüros einzurichten oder gemeinsame Mittagspause-Verpflegung zur Verfügung zu stellen.
So divers die Ideen, so vielfältig waren dann auch die Stichwörter, mit denen Teilnehmende bei einer abschließenden Onlineumfrage ihre wichtigsten Ergebnisse der Jahreskonferenz beschrieben: neue Kontakte, Ideen, Motivation, Vertrauen, mehr Mut und Hoffnung.