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Hintergrundbericht

14. August 2019

Langfristige Chancen auf Teilhabe schaffen

Eine Frau und ein Mann in gelben Warnwesten stehen auf einem Tank mit gelbem Geländer.
Neue Horizonte des Handelns: Mit einer „echten“ Arbeit wieder ein vollständig selbstbestimmtes Leben führen – dieser Wunsch treibt viele Teilnehmende an. Quelle: Start Digital/Unsplash

Arbeit bedeutet Teilhabe. Einen größeren finanziellen Freiraum, einen geregelten Arbeitsalltag, Selbstwirksamkeit und das Gefühl, einen sinnvollen Beitrag zur Gemeinschaft zu leisten, sind eng mit der Teilhabe am Arbeitsmarkt verbunden. Deshalb hat sich der Bund mit dem Teilhabechancengesetz (10. SGB II-ÄndG) das Ziel gesetzt, auch denjenigen Menschen eine Perspektive auf eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung zu bieten, die aufgrund eines langen Leistungsbezugs nur wenig Chancen auf eine Beschäftigungsaufnahme haben. Ein Kernelement dabei ist die Schaffung eines „Sozialen Arbeitsmarkts“, dessen Grundlagen mit §16i SGB II „Teilhabe am Arbeitsmarkt“ gelegt wurden.

Das Anfang dieses Jahres in Kraft getretene Teilhabechancengesetz steht in vielerlei Hinsicht für einen Paradigmenwechsel. Denn der damit geschaffene Soziale Arbeitsmarkt bietet Langzeitarbeitslosen die Möglichkeit einer regulären und – bis auf die Arbeitslosenversicherung –sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung für eine Dauer von bis zu fünf Jahren. Alle Arbeitgeber werden gefördert, und die bisher gültige Trias „Zusätzlichkeit, öffentliches Interesse, Wettbewerbsneutralität“ entfällt. Das eröffnet völlig neue Möglichkeiten, geförderte Arbeitsverhältnisse auch in der freien Wirtschaft zu schaffen.

Ziel ist es nicht, möglichst viele Beschäftigungsverhältnisse zu schaffen, sondern diejenigen zu unterstützen, die anderweitig keine realistische Chance auf eine längerfristige Teilhabe am Arbeitsmarkt haben. Das Gelingen hängt stark davon ab, wie die Jobcenter die für das neue Regelinstrument zentralen Säulen umsetzen – Arbeitgeberakquise, Teilnehmerauswahl und Coaching. In allen drei Bereichen haben sie daher große Freiheiten.

Große Resonanz von Arbeitgeberseite

Viele Jobcenter haben ihre gut organisierten Netzwerke aktiviert, um Arbeitgeber für das neue Instrument zu gewinnen – mit großer Resonanz. Das Interesse geht weit über kommunale Arbeitgeber und karitative Träger hinaus, wie Helena Ferapontow, Teamleiterin des Arbeitgeberservice im Jobcenter Uckermark erzählt: „Bei uns haben viele Arbeitgeber regelrecht darauf gewartet. Insbesondere von Seiten kleinerer Unternehmer gibt es ein reges Interesse, mithilfe dieses Instruments Arbeitnehmer zu finden, die langfristig beschäftigt und entwickelt werden können.“ Dabei spielt auch die aktuelle Lage am Arbeitsmarkt eine Rolle. Das bestätigt Heiko Schuster aus dem Jobcenter Kiel, der dort als Integrationsfachkraft im Spezialteam für den Sozialen Arbeitsmarkt arbeitet: „Fachkräfte sind aktuell nur schwer zu finden, doch wir können Teilnehmende vermitteln, die dem Fachpersonal den Rücken freihalten. Da wir dazu Angebote für langfristige Qualifizierung vorhalten, ist das für viele Betriebe attraktiv.“

Doch natürlich stoßen die Jobcenter nicht bei allen Arbeitgebern auf offene Türen. Das Jobcenter Rhein-Sieg setzt daher auf eine doppelte Strategie. Einerseits schafft es ein Bewusstsein für die Erfolge, die es bereits durch sein starkes Arbeitgebernetzwerk erzielen konnte, zum Beispiel mit einer Sonderausgabe des eigenen Arbeitgebermagazins „su:personal“. Andererseits suchen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter den persönlichen Austausch: „Um echte Vorbehalte auszuräumen, helfen keine Hochglanzbroschüren“, bringt es Hartmut Schmidt, Teamleiter Markt und Integration im Jobcenter Rhein-Sieg, auf den Punkt.

Wenn die zentralen Zutaten zusammenkommen, also die Aussicht auf langfristige Qualifizierung, Nachfrage am Arbeitsmarkt und die Bereitschaft der Arbeitgeber, Integrationsarbeit zu leisten, eröffnen sich Chancen auf ein dauerhaftes Beschäftigungsverhältnis. „Wir haben das Ziel ‚langfristige Beschäftigung‘ klar kommuniziert und konnten bei der Auswahl der Arbeitgeber selektiv vorgehen. Dadurch ist es uns gelungen, die meisten Arbeitsverhältnisse von Anfang an auf fünf Jahre oder sogar unbefristet anzulegen“, berichtet Helena Ferapontow.

Zwei Hände, die einen Zauberwürfel lösen.
Gutes Matching: Wenn Jobcenter die Erwartungen aller Seiten gut im Blick haben, können sie genau diejenigen Arbeitgeber und Teilnehmenden zusammenbringen, die wirklich zusammenpassen. Quelle: Olav Ahrens Røtne/Unsplash

Bei der Teilnehmerauswahl zählt vor allem die Motivation

Damit diese Chancen sich auch langfristig verwirklichen, ist die aktive Mitarbeit der Teilnehmenden nötig. Bei der Auswahl potenzieller Kandidatinnen und Kandidaten müssen die Jobcenter daher sehr gezielt vorgehen. Um die beschäftigungsfördernde Wirkung des Instruments zu gewährleisten, ist die Zielgruppe dabei mit gutem Grund auf wirklich arbeitsmarktferne Personen begrenzt, wie eine Stellungnahme des Nürnberger Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) zum Teilhabechancengesetz herausstellt. Innerhalb dieser Gruppe ist es umso wichtiger, sich genau mit der Motivationslage der Teilnehmenden zu beschäftigen.

Entscheidend ist der Wunsch, wieder ein vollständig selbstbestimmtes Leben führen zu wollen, bestätigt auch Marion Peters, Bereichsleiterin Jobservice im Jobcenter Essen. Wer diese Chance wirklich ergreifen will, ist nicht schwer von den Vorteilen des Programmes zu überzeugen: Ich war jahrelang Arbeitsvermittlerin und meine Erfahrung mit anderen Instrumenten ist, dass Kundinnen und Kunden bei Maßnahmen häufig zurückschrecken. Jetzt können wir sagen: Wir haben eine richtige Arbeit für dich – und das bedeutet oft auch die Unabhängigkeit von Transferleistungen.

Um die richtigen Teilnehmenden zu finden, hilft ein enger Kontakt und persönlicher Austausch. So hat das Jobcenter Schwalm-Eder frühzeitig dreimonatige Vorbereitungslehrgänge veranstaltet. „Die Kandidatinnen und Kandidaten für unsere Lehrgänge haben wir händisch ausgewählt, doch dieser Aufwand hat sich gelohnt“, berichtet Geschäftsführer Hans-Gerhard Gatzweiler. „Es hat sich eine positive Dynamik entwickelt, die wir so absolut nicht erwartet hatten.“ So konnte das Jobcenter nicht nur erkennen, wer für die Teilnahme überhaupt infrage kommt, sondern auch, wie der Einstieg individuell – etwa über eine erste Praktikumsphase – angebahnt werden kann. Einen anderen Weg hat das Jobcenter Oberhausen gewählt: Um Transparenz zu schaffen, zerlegen die Vermittler die freien Stellen in einzelne Bausteine und gehen diese mit den Kandidatinnen und Kandidaten Stück für Stück durch. Ziel ist herauszufinden, ob sie sich vorstellen können, die neue Aufgabe anzutreten.

Persönliche Vermittlung statt starres Matching

Auch wenn Arbeitgeber und Teilnehmende zusammenfinden sollen, ist die intensive Auseinandersetzung mit den einzelnen Fällen entscheidend. „Ein starres Matching führt im SGB-II-Bereich nicht weit“, sagt Karl-Jürgen Schneider, Projektverantwortlicher im Jobcenter Pirmasens. Die persönliche stellen- oder bewerberorientierte Vermittlung durch die eigenen Fachkräfte ist daher nicht nur in Pirmasens das Mittel der Wahl. Darüber hinaus setzen die Jobcenter auf besondere Formate wie etwa ein Speeddating in Essen oder branchenspezifische Bewerbertage in Kiel. Dort hat das Jobcenter auch anonymisierte Online-Bewerberprofile mit kurzen Videos erstellt. Nicht selten kennen Arbeitgeber und Teilnehmende sich jedoch schon aus vorherigen Maßnahmen. „Das Teilhabechancengesetz ist dann die Möglichkeit, zum Beispiel einen klassischen 1-Euro-Job nahtlos zu einem normalen Arbeitsverhältnis zu machen“, sagt Hartmut Schmidt aus dem Jobcenter Rhein-Sieg.

Ein weißer Pfeil, der nach rechts weist, auf einer blauen Backsteinwand.
Richtungweisende Begleitung: Ein individuelles Coaching hilft den Teilnehmenden dabei, zentrale Hürden früh zu erkennen und schnell zu überwinden. Quelle: Nick Fewings/Unsplash

Coaching schafft Vertrauen und Verbindlichkeit

Bevor aus einem einmal geschlossenen Arbeitsverhältnis eine langfristige Chance auf Teilhabe wird, müssen oft viele Hürden überwunden werden – und hier kommt das Coaching ins Spiel. „Die Teilnehmenden bringen aus einer langen Geschichte der Arbeitslosigkeit oft Selbstzweifel und Unsicherheit mit“, erläutert Dirk Reiner, Sachgebietsleiter Impuls im Jobcenter Pro Arbeit Offenbach. Dort wurde die Umsetzung des Teilhabechancengesetzes direkt in einem speziellen Sachgebiet des Jobcoachings in Zusammenarbeit mit dem Arbeitgeberservice verankert. Dabei arbeiten Coaches und Personalvermittler in enger Abstimmung, um sowohl Teilnehmende als auch Arbeitgeber zu begleiten und zu unterstützen, wie die Leiterin des Arbeitgeberservice Christin Hagemann erklärt: „Das ist Personalentwicklung pur. Das ist Sozialarbeit in Unternehmen und dafür muss ein Bewusstsein geschaffen werden, auch bei den anderen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern.“

Entscheidend für den Erfolg der Coaches sind vertrauensvolle Beziehungen und die enge Begleitung im Arbeitsalltag. Der offene Austausch, über längere Phasen oft mit wöchentlichen Terminen, hilft nicht nur, die individuellen Quellen von Problemen aufzudecken. Er trägt auch zur Motivation der Teilnehmenden bei wie Larissa Mihm, die im Jobcenter Fulda als Coach arbeitet, berichtet: „Die Kunden sagen mir, dass sie stolz auf ihre Arbeit sind – und dass ich an ihrer Seite stehe und gemeinsam mit ihnen diese Aufgaben bewältige. Sie möchten dann auch mir gegenüber nicht scheitern. Das schafft eine ganz neue Verbindlichkeit.“

Die meisten Jobcenter entscheiden sich bislang für ein Coaching durch eigene Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Sitzen Vermittler und Jobcoaches unter einem Dach, sind die Wege kurz. Offene Fragen können unkomplizierter beantwortet werden, als dies bei externen Coaches möglich wäre. Trotzdem gibt es gute Argumente für die Ausschreibung an externe Träger. So etwa im Jobcenter Nordsachsen, das einen Flächenlandkreis zu bedienen hat: „Wir haben zuvor Sozialpädagogen als Coaches eingestellt. Unsere Erfahrungen waren sehr gut, aber die Kollegen waren aufgrund der langen Wege neunzig Prozent der Zeit außer Haus. Das wollen wir mit der externen Ausschreibung abfedern, und außerdem die Chance nutzen, noch einmal fachlich dazu zu lernen“, erklärt Kathrin Paul, Teamleiterin im Jobcenter. Um die Anbindung sicherzustellen, lernen sich Coaches und Teilnehmende immer in den Räumlichkeiten des Jobcenters kennen. Dort kommen sie auch zusammen, wenn es Hinweise auf Probleme gibt, die nur gemeinsam gelöst werden können.

Optimismus für die Zukunft

Seit Inkrafttreten des Teilhabenchancengesetz konnten bundesweit bis Ende Juli 2019 bereits über 21.000 Teilnehmende erfolgreich vermittelt werden. Die Erfahrungen aus der bisherigen Umsetzung zeigen, dass es dabei vor allem auf drei Faktoren ankommt: Erstens die Qualität der Beratung, um zur richtigen Passung von Teilnehmenden und Arbeitgebern zu kommen. Zweitens eine enge Begleitung, um Erwartungen zu managen und Probleme aus dem Weg zu räumen. Drittens Vertrauen zwischen allen Beteiligten. Die Jobcenter in ganz Deutschland zeigen sich optimistisch, dass dieser Weg auch in Zukunft zum Erfolg führen wird.

Zwar ist klar, dass die Erfahrungen von heute sich nicht beliebig in die Zukunft fortschreiben lassen. „Die Arbeitgeber sind jetzt zu Beginn der Förderung besonders neugierig und ich gehe davon aus, dass wir im zweiten oder dritten Jahr Überzeugungsarbeit leisten müssen, wenn wir weitere nachhaltige Arbeitsverhältnisse schaffen wollen“, sagt Helena Ferapontow aus dem Jobcenter Uckermark. Auch Hans-Gerhard Gatzweiler vermutet, dass sich die Dynamik so nicht fortsetzen wird, sieht das Problem aber an ganz anderer Stelle: „Wir könnten theoretisch noch weit mehr Stellen schaffen, aber die Nachfrage ist so groß, dass wir bei den Fördermitteln an Grenzen kommen.“

Für den Geschäftsführer aus Schwalm-Eder ändert das jedoch nichts daran, dass das Teilhabechancengesetzes in die richtige Richtung weist: „Für uns war von Anfang an klar, dass es sinnvoll ist, Arbeit statt Arbeitslosigkeit zu bezahlen.“ Und auch Karl-Jürgen Schneider aus Pirmasens stimmt zu: „Wenn jemand mehrere Jahre in Beschäftigung gestanden hat, sich bewährt hat und zu einem Mitglied der Betriebsfamilie geworden ist, dann stehen die Chancen gut, dass derjenige dort weiter beschäftigt werden kann.“