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Expertengespräch: Prof. Dr. Martin Brussig

14. August 2019

Wer arbeiten kann, hat vielfältige Chancen auf Teilhabe. Prof. Dr. Martin Brussig leitet am Institut Arbeit und Qualifikation (IAQ) der Universität Duisburg-Essen ein Forschungskonsortium zur Evaluation des Bundesprogrammes „Soziale Teilhabe am Arbeitsmarkt“. Im Gespräch erklärt Brussig, wie Arbeit Teilhabe ermöglicht, welchen Beitrag geförderte Beschäftigung leisten kann, und welche Bedeutung dem neuen Teilhabechancengesetz dabei zukommt.

Porträtfoto von Prof. Dr. Martin Brussig. Er hat kurze Haare und trägt eine Brille, ein dunkelblaues Sakko, ein hellblaues Hemd und eine rote Krawatte.
Prof. Dr. Martin Brussig leitet am Institut Arbeit und Qualifikation (IAQ) der Universität Duisburg-Essen ein Forschungskonsortium zur Evaluation des Bundesprogrammes „Soziale Teilhabe am Arbeitsmarkt“, in dem das IAQ mit dem Leibnitz-Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZWE) in Mannheim, der ZOOM-Gesellschaft für prospektive Entwicklungen in Göttingen und dem SOKO-Institut in Bielefeld kooperiert.

Servicestelle SGB II: Herr Brussig, bei der neuen Förderung nach § 16i SGB II, Teilhabe am Arbeitsmarkt, ist der Name Programm: Es geht darum, die Möglichkeit auf Teilhabe zu verbessern. Wie schätzen Sie das Potenzial ein, diesen Anspruch auch einzulösen?
Martin Brussig: Natürlich muss man mit dem Inkrafttreten erst einmal abwarten, wie sich die Dinge entwickeln. Entscheidend ist für mich die Erkenntnis, dass der Sozialstaat Menschen dazu befähigen sollte, ein Leben gemäß den eigenen Vorstellungen führen zu können. Viele Menschen sind für den allgemeinen Arbeitsmarkt nicht ohne weiteres einsatzfähig, aber zugleich auch nicht erwerbsgemindert. Ich halte es daher für richtig, für diese Menschen ein neues Instrument zu schaffen. Erwerbsarbeit bietet vielfältige Chancen auf Teilhabe, und mit der neuen Förderung besteht tatsächlich die Möglichkeit, für den beschriebenen Personenkreis Beschäftigungsverhältnisse mit Nähe zum allgemeinen Arbeitsmarkt herzustellen.

Servicestelle SGB II: Sie sagen, dass Erwerbsarbeit Teilhabechancen eröffnet, aber wovon sprechen wir eigentlich, wenn wir von „Teilhabe“ reden?
Martin Brussig: Als politisches Ziel ist soziale Teilhabe seit mehr als 15 Jahren in der Diskussion, aber aus wissenschaftlicher Sicht ist eine eindeutige Definition gar nicht so einfach. Wir selbst folgen bei unserer Evaluation im Wesentlichen dem Befähigungsansatz, der auf Amartya Sen und Martha Nussbaum zurückgeht. Darauf fußt auch, was ich oben als Ziel des Sozialstaates formuliert habe: Teilhabe bedeutet, sehr allgemein gesprochen, ein Leben gemäß den eigenen Vorstellungen führen zu können. Dabei geht es also erstens um die selbstgesetzten Lebensziele der Menschen, und zweitens um die Möglichkeiten, diese Ziele auch verwirklichen zu können. Dafür sind Ressourcen und Kompetenzen nötig, aber auch die rechtlichen und faktischen Möglichkeiten, diese einzusetzen. Es geht also bei Teilhabe darum, aktiv teilzunehmen.

Servicestelle SGB II: Warum ist die Teilhabe am Arbeitsmarkt dafür so wichtig?
Martin Brussig: Teilhabe hat eine ganze Reihe von Dimensionen, die durch Erwerbsarbeit nicht alle im gleichen Maße berührt werden. Doch insgesamt gilt: Wir leben in einer Arbeitsgesellschaft, und Erwerbsarbeit bietet vielfältige Chancen auf Teilhabe. Einerseits verschafft sie Ressourcen, Einkommen und Zugang zu den Systemen sozialer Sicherung. Andererseits entstehen am Arbeitsplatz soziale Beziehungen, zu Kolleginnen und Kollegen, in vielen Fällen aber auch zu Kundinnen oder Kunden. Außerdem verschafft die Tätigkeit oft auch Befriedigung, gibt Sinn und schafft Zugehörigkeit, die über das eigene Team hinausgeht, da man an etwas Nützlichem mitwirkt. Erwerbsarbeit ermöglicht die Integration in ein komplexes Sozialsystem.

Servicestelle SGB II: Welche Rolle können geförderte Beschäftigungsverhältnisse spielen, um diese Form der sozialen Teilhabe zu ermöglichen?
Martin Brussig: Es kommt auf die Ausgestaltung an. Einerseits weist die Forschung darauf hin, dass Arbeit teilhabeförderlicher ist, wenn sie dicht am allgemeinen Arbeitsmarkt ist. Arbeitsgelegenheiten ohne Versicherung, Entlohnung und Urlaubsanspruch sind weniger teilhabeförderlich als versicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse, selbst wenn diese gefördert oder bei einem Beschäftigungsträger angesiedelt sind. Andererseits kann Arbeit ihre teilhabeförderliche Wirkung nur dann entfalten, wenn sie auch inhaltlich gut ausgestaltet ist. Hier kommt wieder die oben genannte Definition ins Spiel: Es geht darum, ob die Arbeit zu dem Leben passt, das eine Person zu führen beabsichtigt.

Servicestelle SGB II: Woran kann man erkennen, ob ein Beschäftigungsverhältnis gut ausgestaltet ist?
Martin Brussig: Im Wesentlichen geht es um drei Dimensionen: Erstens muss die Arbeit zur Leistungsfähigkeit der Person passen, sowohl aus gesundheitlicher Sicht als auch unter dem Aspekt der Qualifikation. Arbeit darf nicht über-, sie darf aber auch nicht unterfordern. Zweitens geht es um die zeitliche Dimension, insbesondere wenn jemand Verpflichtungen im Haushalt oder bei der Kinderbetreuung hat. Und schließlich muss der Arbeitsinhalt zu dem passen, was die Person will. Einige schätzen Selbstständigkeit in der Arbeit, andere schätzen eher klare Vorgaben. Manche sind zufrieden, wenn sie alleine im Warenlager arbeiten können, andere brauchen die Zusammenarbeit im Team. Diese drei Dimensionen müssen zur Deckung gebracht werden, damit die Arbeit tatsächlich teilhabeförderlich ist.

Servicestelle SGB II: Wie schätzen Sie vor diesem Hintergrund das Potenzial der Förderung nach § 16i SGB II ein, Teilhabe nachhaltig zu ermöglichen?
Martin Brussig: Die Förderung über fünf Jahre ist in jedem Fall besser als bei den vorherigen Programmen. Denn die Frustration, mit Programmende wieder ohne Arbeit dazustehen, ist für die Betroffenen doch erheblich. Entscheidend ist aber, dass die Teilnehmenden über § 16i SGB II in reguläre, versicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse gebracht werden. Hier spielt zunächst die Leistungsdimension eine große Rolle: Wie schon gesagt gelten die Personen der Zielgruppe nicht als leistungsgemindert im Sinne des Erwerbsminderungsrentenrechts. Daher ist es sinnvoll, Beschäftigungsmöglichkeiten am allgemeinen Arbeitsmarkt zu schaffen, und dann gehören die vollen Rechte aus einem Beschäftigungsverhältnis und die Einbeziehung in die Sozialversicherungen dazu. Damit die Teilnahme an der Förderung wirklich teilhabeförderlich wird, sollten – wie bei jeder anderen Form der Arbeitsvermittlung auch – natürlich auch Arbeitsinhalt und Zeitdimension passen.