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„Jobcenter als Unterstützer und Problemlöser“

24. Mai 2018

Im Gespräch über das Jobcenter der Zukunft

Zwei Portraitfotos von lächelnden Männern mit Brille.

Dass das SGB II viele Gestaltungsmöglichkeiten bietet, davon sind die Jobcenter-Geschäftsführer Frank Neukirchen-Füsers (Dortmund) und Dr. Matthias Schulze-Böing (MainArbeit Offenbach) überzeugt. Wie sie diesen Freiraum nutzen und welche Ziele sie konkret verfolgen, darüber sprechen sie in unserem Doppel-Interview.

Servicestelle SGB II: Wie entstehen Innovationen im Jobcenter?

Frank Neukirchen-Füsers: Vor allem durch unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Wir haben in Dortmund vor einem Jahr einen neuen Beteiligungsprozess gestartet, um gemeinsam die Leitplanken für das Jobcenter der Zukunft zu entwickeln. Wir definierten Handlungsfelder wie Beratung, Netzwerkarbeit, innovative Prozesse und Mitarbeiterbeteiligung, räumliche Gestaltung oder Kundenkommunikation, die nun von Arbeitsgruppen vorangetrieben werden. Über 120 Kolleginnen und Kollegen arbeiten an diesen Themen mit. Wir als Geschäftsführung stehen ihnen unterstützend zur Seite. Unsere Türen sind offen, wir haben Patenschaften für die Arbeitsgruppen übernommen, und wir achten darauf, erste Ideen, die entwickelt werden, schon im Prozess umzusetzen. Wichtig ist mir aber auch, dass wir den Arbeitsgruppen die Zeit geben, die sie brauchen und keinen Druck entstehen zu lassen. Der Prozess ist über mehrere Jahre angelegt, alle sollen sich einbringen können. Freiwilligkeit ist das A und O.

Matthias Schulze-Böing: Auch in Offenbach gestalten die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wesentliche Organisationsentwicklungsprozesse mit, ja die Ideen gehen größtenteils auf die Belegschaft zurück. Der „Ownership“-Gedanke ist dabei wichtig: Kann ich die Prozesse meiner Arbeit mitgestalten, finde ich mich in den Produkten und Problemlösungen wieder? Als Führungskraft ist es unsere Aufgabe, die Ideen aus der Praxis aufzunehmen, daraus neue Konzepte abzuleiten und organisationsweite Standards zu definieren. Auch unser Qualitätsmanagement – wir lassen uns in diesem Jahr nach DIN ISO 9000 zertifizieren – verfolgt ein ähnliches Ziel: nämlich Transparenz zu schaffen und Prozesse gut zu beschreiben. Es ist aber auch eine Führungsaufgabe, darauf zu achten, dass Qualitätsarbeit und Ideenmanagement nicht bürokratisch degenerieren. Zu viele Regeln und definierte Prozesse können das Innovationspotential auch verschütten. Entscheidend ist in meinen Augen, dass man kommunikationsintensive Strukturen etabliert und dass die Reflexion Teil des Alltagshandelns bleibt: Wo liegen Probleme, und wie können Lösungen aussehen?

Frank Neukirchen-Füsers: Eine fragende Kultur zu etablieren, ist in der Tat sehr wichtig. Ich würde aber noch einen Schritt weitergehen. Denn auch wenn Dinge gut funktionieren, heißt das nicht, dass das so bleibt und es nicht eine bessere Lösung geben kann. Auch erfolgreiche Strukturen müssen morgen nicht mehr die richtigen sein. Ich sehe die Gefahr weniger in den Problemen als vielmehr darin, dass etablierte Dinge unreflektiert fortgeschrieben werden. Veränderung mag nicht jeder, aber sie ist dringend erforderlich für das Überleben einer Organisation.

Servicestelle SGB II: Wie verändert sich die Arbeit im Jobcenter, zum Beispiel durch die Digitalisierung?

Matthias Schulze-Böing: Ich gehe davon aus, dass wir schon bald fünfzig Prozent unserer Kundenkommunikation digital führen. In fünf Jahren wollen und werden wir da wesentlich weiter sein als heute. Ganz am Anfang stehen wir nicht. Wir haben in Offenbach vor drei Jahren die e-Akte eingeführt und vor zwei Jahren eine Jobcenter-App, die wir nun schrittweise ausbauen. Wir entwickeln gerade ein Kundenportal, das mit den Fachanwendungen verknüpft ist und über das die Kundinnen und Kunden ihre Dokumente hochladen und zuordnen können.

Frank Neukirchen-Füsers: Diese Themen bewegen uns natürlich auch in Dortmund. Aktuell bieten wir eine Online-Terminierung und freien W-Lan-Zugang als Modellprojekt an. Für die Kommunikation mit unseren Kundinnen und Kunden sind die digitalen Medien eine große Chance: Wir können viel schneller und direkter informieren als heute. Aber die Digitalisierung wird natürlich auch die Arbeitsabläufe im Jobcenter massiv verändern. Wir werden neue Arbeitszeitmodelle bekommen, auch dezentraler und flexibler arbeiten können. Schon heute verändern sich die Erwartungen der jungen Kolleginnen und Kollegen an ihren Arbeitsort massiv. Diese Trends werden wir berücksichtigen müssen, aber manches ist sicherlich noch nicht zu Ende gedacht.

Servicestelle SGB II: Welche Themen gewinnen aktuell noch an Bedeutung?

Frank Neukirchen-Füsers: Ein Riesenthema ist die Gesundheit. Wenn man die Menschen fragt, wo ihnen der Schuh drückt und wie wir sie als Jobcenter unterstützen können, dann kommt die Sprache sehr oft auf Rahmenbedingungen wie Kita, Schulden oder eben die eigene Gesundheit. Die Probleme können wir aber nicht allein lösen. Wir können die soziale Situation erfragen, die Menschen beraten und ihnen Lösungen anbieten – für die Umsetzung aber brauchen wir verlässliche Netzwerkpartner. Wie können wir uns weiter aktiv vernetzen? Wie schaffen wir Win-Win-Situationen? Wie bauen wir unsere Netzwerke aus? Auch diese Fragen bewegen uns. Mit einem Modell im Rahmen der rehapro-Fördermöglichkeiten erhoffen wir uns wesentliche Erkenntnisse zu diesen Themen.

Matthias Schulze-Böing: Dieser Aspekt ist in der Tat sehr wichtig: Kooperation. Der Auftrag der Jobcenter sollte aber nicht überdehnt werden! Unsere Kernaufgabe ist, Menschen bei der Überwindung einer Notlage zu helfen, indem wir sie wieder in Arbeit integrieren. Um es überspitzt zu formulieren: Was wir nicht leisten können, ist alle Defizite der Welt zu beseitigen. Wir brauchen ein ganzheitliches Dienstleistungsverständnis, aber auch einen klaren fachlichen Fokus. Und das ist nun mal Erwerbsarbeit im ersten Arbeitsmarkt. Natürlich verändert sich unsere Kundschaft und wir müssen auf viele Probleme im Lebenskontext eingehen. Aber ein Jobcenter ist keine Sozialagentur. Deshalb sind Kooperation und gute Netzwerke wichtig. Wir können nicht alle Themen bearbeiten, aber wir müssen wissen, welche Partner wir vor Ort ins Spiel bringen müssen und wer den Faden aufnehmen kann.

Servicestelle SGB II: Was wollen Sie in den nächsten Jahren erreichen?

Matthias Schulze-Böing: Das vorrangige Ziel ist natürlich die Integration in Arbeit und der Abbau von Hilfebedürftigkeit. Wir haben eine erfolgreiche Entwicklung hinter uns, die wir fortsetzen möchten, auch wenn die konjunkturellen Rahmenbedingungen nicht mehr so günstig sein werden. Der Rückgang der Arbeitslosigkeit hat unsere Arbeit aber nicht leichter gemacht – im Gegenteil: Der Anteil der Kundinnen und Kunden, die größere Probleme haben, nimmt zu. Für diese Menschen müssen wir uns mehr Zeit nehmen, das ist eine Herausforderung. Wir wollen unsere Betreuungsintensität weiter verbessern.

Frank Neukirchen-Füsers: Wir wollen als Jobcenter ein noch aktiverer Dienstleister werden, weniger Verwaltung wagen und stärker zu einer Art Servicestelle für die Menschen werden, die wir im Jobcenter betreuen. Die Bürgerinnen und Bürger sollen uns als Unterstützer und Problemlöser wahrnehmen, nicht als Ordnungshüter. Dabei spielt die Qualität unserer Beratung eine entscheidende Rolle. In meinen Augen machen wir zu oft den Fehler, dass wir zu wissen glauben, was für unsere Kundinnen und Kunden das Beste ist. Und dann schlagen wir Maßnahmen vor und sind verwundert, dass sie wenig Erfolg zeigen. Transparenz, Informiertsein, Freiwilligkeit bei der Inanspruchnahme von Dienstleistungen – das sind Themen, um die sich die gesellschaftliche Diskussion dreht. Wir als Jobcenter können uns davor nicht verschließen. Ich bin überzeugt: Um die Menschen zu motivieren, ins Jobcenter zu kommen und unsere Unterstützung zu suchen, müssen wir eine andere Haltung einnehmen und transparent machen, welche Angebote und Förderungen wir bieten – unser Portfolio an Dienstleistungen offenlegen. Wenn die Kundinnen und Kunden aus diesem Portfolio auswählen und für sich entscheiden können, was sie davon in Anspruch nehmen möchten, dann erreichen wir sehr viel mehr für die Menschen als heute.

Matthias Schulze-Böing: Es geht um das Prinzip der Koproduktion. Wie können wir Kundinnen und Kunden schon in die Gestaltung und Entwicklung der Maßnahmen einbeziehen? Hier gibt es noch ein großes Potential. Unser Arbeitsmarktprogramm 2019 wird mit Beteiligung unserer Kundinnen und Kunden entstehen.

Frank Neukirchen-Füsers: Als Führungskraft bewegt mich die Frage: Heben wir wirklich den Schatz, den wir im Jobcenter haben, die Vielfalt der Professionen und Persönlichkeiten? Da steckt so viel Potenzial, aber ich habe manchmal den Eindruck, dass die Kommunikation nach oben noch nicht richtig funktioniert, dass wir als Führungskräfte zu wenig Feedback erhalten. Auch hier habe ich natürlich den Wunsch, etwas verändern zu können.