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„Any lessons learned?“ – Fachleute blicken auf Corona-Lehren für den sozialen Sektor

12. November 2021

Der Deutsche Verein für öffentliche und private Fürsorge e.V. hat „lessons learned“ aus der Corona-Pandemie gesammelt – gemeinsam mit drei Bundesministerien. In drei digitalen Veranstaltungen diskutierten die Teilnehmenden. Welche Lehren waren für die Jobcenter-Praxis dabei?

Deutscher Verein e.V.

Drei Tage, mehr als 50 Referentinnen und Referenten und über 700 Teilnehmende: Die digitale Veranstaltungsreihe „Covid 19 – any lessons learned?“ betrachtete die Pandemie und ihre Auswirkungen im sozialen Bereich. Zu der Reihe lud der Deutsche Verein gemeinsam mit dem Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales und dem Bundesministerium für Gesundheit ein. Die komplette Dokumentation steht online zur Verfügung. Sgb2.info blickt, anhand dieser Aufzeichnungen, auf Diskussionspunkte, die für Jobcenter wichtig sein könnten.

Lesson Learned: Pflegebedürftige und Menschen mit Behinderungen im Krisenfall immer mit einbeziehen!

Mehrere Vortragende hoben die besonderen Benachteiligungen von Menschen mit Behinderungen während der Pandemie hervor. Vielfach seien ihre Bedürfnisse sowie die Situation für das Pflegepersonal und pflegende Angehörige nicht gesehen worden, sagte etwa die Bundesgeschäftsführerin der Bundesvereinigung Lebenshilfe, Jeanne Nicklas-Faust, in ihrem Vortrag. Weder Mitarbeitende in Einrichtungen der Behindertenhilfe noch die stark geforderten Familien erhielten Corona-Prämien. Die Inklusion habe durch die Pandemie Rückschläge erlitten, besonders, weil Menschen mit Behinderungen in den Lockdowns nicht im Sozialraum präsent waren. Es habe jedoch eine Verbesserung bei der digitalen Ausstattung und einen Zuwachs von digitalen Kompetenzen bei Menschen mit Behinderungen gegeben.

Rechtsanwalt Konstantin Fischer von der Bundesarbeitsgemeinschaft Werkstätten für behinderte Menschen berichtete jedoch auch, dass viele der Mitarbeitenden mit Behinderungen zeitweise „von Kommunikationssträngen abgetrennt“ gewesen seien und oftmals nicht ausgestattet waren, um sich digital mit anderen austauschen zu können. Die Beschäftigte in den Werkstätten konnten zeitweise nicht arbeiten – ohne Anspruch auf Kurzarbeitergeld.

Lesson Learned: Kommunikation muss nicht nur verständlich sein, sondern auch barrierefrei!

Vertreterinnen und Vertreter der Bundesministerien verwiesen darauf, dass alle Beteiligten sich im Laufe der Pandemie weiterentwickelten. Die Umsetzung barrierefreier Kommunikation sei so eine Lernerfahrung gewesen. Nach Kritik an der ersten Ansprache der Bundeskanzlerin sei fortan immer eine Gebärdendolmetschung angeboten worden. Die Corona-Warn-App sei mit der Zeit barriereärmer geworden. Sie habe ein neues Schriftbild und eine einfachere Sprache erhalten.

Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales und das Bundesministerium für Gesundheit hoben hervor, dass mit dem Sozialdienstleister-Einsatzgesetz (SodEG) erstmals die Systemrelevanz der sozialen Infrastrukturen anerkannt worden sei und Maßnahmen zur Sicherung der Vielfalt sozialer Anbieter, Dienste und Einrichtungen ergriffen wurden. Die Existenzsicherung sei gelungen. In den Bereichen der Kranken- und Pflegeversicherung sei die pflegerische Versorgung während der Pandemie gesichert worden.

Zur kompletten Dokumentation der ersten Veranstaltung geht es hier .

Lesson Learned: Digitale Zugänge und neue Prozesse bewähren sich – jedoch nicht für alle Leistungsberechtigten!

Jobcenter haben seit Beginn der Pandemie maßgeblich dazu beigetragen, den sozialen Frieden in dieser schwierigen Zeit zu sichern. Bundesweit richteten sich die Häuser blitzschnell auf die neue Situation ein, ermöglichten neue Zugangswege und organisierten vereinfachte Zugänge in die Grundsicherung. Die Jobcenter bewiesen ihre Leistungsfähigkeit, hob Abteilungsleiterin Vanessa Ahuja aus dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales hervor.

Karl-Josef Cranen, Leiter des kommunalen Jobcenters Job-Com im Kreis Düren, beschrieb die teils überraschenden Lehren aus seiner Sicht: Der vereinfachte Zugang habe eine unbürokratische Leistungsbewilligung ermöglicht – und nicht für einen Missbrauch des Sozialstaates gesorgt. Leistungsberechtigte haben digitale Angebote gut angenommen. Das Jobcenter Kreis Düren schaltete am 27. März 2020 seinen digitalen Neuantrag frei. Innerhalb von 350 Tagen gingen rund 85 Prozent der 3.624 Neuanträge digital ein. Es gab seit Beginn der Pandemie deutlich weniger Beschwerden, stattdessen sogar viel Lob, und im Jahr 2020 rund 25 Prozent weniger Widersprüche als 2019.

Referatsleiterin Karin Vorhoff vom Deutschen Caritasverband gab jedoch zu bedenken, dass der digitale Zugang für einen Teil der Leistungsberechtigten eine Hürde darstelle. Es fehle bei einigen Menschen an der technischen Ausstattung und an der Erfahrung, zudem könnten manche Menschen nicht gut lesen und schreiben. Sie benötigen auch weiterhin eine persönliche Erreichbarkeit des Jobcenters und direkte Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartner statt der Telefonhotline und Onlineformulare. Vorhoff mahnte eine noch bessere Erreichbarkeit der Jobcenter an. Probleme hätten sich teilweise aufgestaut, Beratungsstellen hatten mehr akute Notfälle.

Lesson Learned: Die gestiegene Kundenzufriedenheit ist Motivation, Prozesse neu und einfacher zu denken!

Fabian Beckmann von der Ruhr Universität Bochum berichtete dahingegen von einer grundsätzlich hohen Zufriedenheit. Er befragte Beschäftigte und Leistungsbeziehende des kommunalen Jobcenters Kreis Recklinghausen. Die Zufriedenheit mit dem Jobcenter und mit dem sozialen Sicherungssystem sei hoch, Beschäftigte und Leistungsberechtigte sahen die veränderten Verfahren und Prozesse überwiegend positiv. Beckmann leitet daraus die Folgerung ab, es brauche „mehr Mut für eine weniger restriktive Weiterentwicklung des ALG II, solange keine belastbaren empirische Belege für große negative Effekte eintreten“. Eine Digitalisierungsoffensive in der Verwaltung sei allerdings nötig.

Margret Böwe vom Sozialverband VdK lobte, die Aussetzung der Vermögensprüfung und die Übernahme der tatsächlichen Wohnkosten habe funktioniert. Sie regte an, die Neuregelung dauerhaft zu übernehmen, da Grundsicherungsberechtigte nur selten nennenswertes Vermögen haben und erhebliches Vermögen auch über die Einkommensprüfung ermittelt werden könne. Ein echter „Paradigmenwechsel“ von kleinteiliger Anspruchsprüfung hin zu einer unbürokratischen Existenzsicherung bedürfe mehr Reformen, sagte Böwe.

Zur kompletten Dokumentation der zweiten Veranstaltung geht es hier .

Lesson Learned: Digitale Teilhabe ist auch für Jugendliche nicht selbstverständlich – soziale Ungerechtigkeit droht sich zu verschärfen!

Gerade junge Menschen hat die Corona-Pandemie stark geprägt. Sie sahen sich mit Zukunftsängsten und psychischen Belastungen konfrontiert. Wolfgang Schröer vom Institut für Sozial- und Organisationspädagogik an der Universität Hildesheim zeigte einige Auswirkungen anhand derStudien JuCo I und JuCo II. Mehr als 45 % der befragten Jugendlichen äußerten Ende 2020 konkrete Zukunftsängste. Und auch wenn die meisten den Corona-Maßnahmen zustimmten, gab mehr als ein Drittel der rund 7.000 Befragten an, sich in der aktuellen Situation einsam zu fühlen. Schröer forderte dazu auf, bei die Vorbereitung auf kommende Krisensituationen schon heute die Interessen junger Menschen stärker zu berücksichtigen. Fast 65% sagten in der JuCo-II-Befragung, dass sie nicht oder gar nicht den Eindruck haben, dass die Sorgen junger Menschen in der Politik gehört werden.

Lisi Maier, Bundesvorsitzende des Bundes der Deutschen Katholischen Jugend, bestätigte, dass Sorgen und Einsamkeitsgefühle in der Pandemie zunahmen. Zugleich stand die Jugend- und Jugendverbandsarbeit unter Druck. Insbesondere Ehrenamtliche mussten sich selbst ganz neu organisieren, um mit Abstand digital weiterarbeiten zu können. Auch Maier sprach das Problem der teils mangelnden digitalen Teilhabe an. Junge Menschen brauchen etwa für das digitale Lernen das Geld und den Platz. Die Benachteiligung mancher sei im Homeschooling eher verschärft worden.

Lesson Learned: In der Arbeit mit jungen Menschen sind digitale Angebote mindestens so wichtig wie analoge!

Annett Bauer vom Paritätischen Brandenburg bestätigte dies. Kurzfristig obdachlos gewordene junge Erwachsene bekamen teils keine zeitnahe Vor-Ort-Beratung durch Jobcenter oder Sozialamt. Die zentralen Prinzipien Niedrigschwelligkeit und Offenheit wurden im Lockdown nicht eingehalten. Bauer sprach auch langfristige, negative Wirkungen der Pandemie auf die sozialen Träger an. Geschlossene Einrichtungen seien durch Umsatzeinbrüche in ihrer Existenz bedroht. Fachkräfte wandten sich ab und suchten neue Arbeit.

Dabei seien die Aufgaben im Sozialen groß: Es brauche mehr digital unterstützte Kinder- und Jugendhilfe, digitale Reflexions- und Gestaltungsräume sowie Partizipationsmöglichkeiten für Kinder und Jugendliche. Im Privaten hätten sich Beziehungen junger Menschen bereits digitalisiert; analoge und digitale Beziehungen verschränkten sich, sagte Bauer. Dieses ganz natürliche Nebeneinander von digital und analog müsse auch in der Arbeit mit jungen Menschen stattfinden. Im Übrigen sollten Erwachsene die Kinder und Jugendlichen stärker als digitale Expertinnen und Experten anerkennen und ihre Kompetenzen nutzen.

Zur kompletten Dokumentation der dritten Veranstaltung geht es hier .