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Hintergrundbericht

29. Januar 2018

Menschen mit Behinderungen – neue Impulse für den Zugang zum Arbeitsmarkt

Eine ältere Frau und ein Mann stellen lachend Tassen auf einen Tisch.
Quelle: iStock

Fast 13 Millionen Menschen in Deutschland leben mit Behinderungen. Jeder elfte Einwohner gilt nach Zahlen des Statistischen Bundesamtes als schwerbehindert. Das sind 7,6 Millionen Menschen. Dass auch sie am Arbeitsleben teilhaben können, entspricht auch einem der wesentlichen Ziele der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK), die seit 2009 geltendes Recht in Deutschland ist. So schreibt die UN-BRK unter anderem das Recht von Menschen mit Behinderungen fest, durch Arbeit den eigenen Lebensunterhalt in einem offenen und für Menschen mit Behinderungen zugänglichen Arbeitsmarkt verdienen zu können und verbietet dabei jegliche Diskriminierungen aufgrund von Behinderungen in allen Angelegenheiten im Zusammenhang mit Beschäftigung.

Arbeit ist nicht nur sinnstiftend, sondern versetzt Menschen auch in die Lage, ihr Leben selbstbestimmt zu gestalten und Teil der Gemeinschaft zu sein. Doch der Arbeitsmarkt zeigt: Behinderungen führen oft zu Hemmnissen, die der Teilhabe am Arbeitsleben im Weg stehen – obwohl die Betroffenen nicht weniger motiviert und wie die Statistiken belegen, nicht schlechter qualifiziert sind.

Ein Mann im Rollstuhl trägt eine Warnweste und einen Bauhhelm.

Unterstützung zur Teilhabe am Arbeitsleben

Mit dem Neunten Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) steht bereits seit dem Jahr 2001 ein eigenes Regelwerk zur Verfügung, das darauf zielt, die Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen und ihre gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu fördern, Benachteiligungen zu vermeiden oder ihnen entgegenzuwirken. Der Kern: Menschen mit Behinderungen und Menschen, denen eine Behinderung droht, haben ein Recht auf Unterstützung. Und zwar die Unterstützung, die notwendig ist, um eine Behinderung und ihre Folgen abzuwenden, zu beseitigen oder zu mildern (§ 4 Abs. 1 SGB IX). Dazu gehört ganz wesentlich auch die Teilhabe am Arbeitsleben. Für die Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben kommen unterschiedliche Rehabilitationsträger (Reha-Träger) in Betracht, unter anderem die Träger der gesetzlichen Rentenversicherung und der gesetzlichen Unfallversicherung oder die Bundesagentur für Arbeit. Sofern kein anderer Reha-Träger zuständig ist, ist die Bundesagentur für Arbeit für die berufliche Rehabilitation der zuständige Rehabilitationsträger. Das Maßnahmenspektrum reicht von der Berufsberatung und -orientierung über Vorbereitungs- und Erprobungsmaßnahmen bis hin zur Förderung von Aus- und Weiterbildung. Das Ziel ist dabei stets, behinderungsbedingte individuelle Nachteile zu überwinden und eine dauerhafte (Wieder-) Eingliederung in den Arbeitsmarkt zu ermöglichen. Hinzu kommen die besonderen Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben, welche die Bundesagentur für Arbeit an Menschen mit Behinderung im Sinne des § 19 SGB III bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen erbringt. Dazu gehören zum Beispiel Qualifizierungsmaßnahmen in Einrichtungen der beruflichen Rehabilitation, spezielle Tastaturen für körperlich eingeschränkte Personen oder eine Vorlesesoftware für blinde Menschen.

Bundesteilhabegesetz: Alle Leistungen aus einer Hand

Das Bundesteilhabegesetz (BTHG), das 2016 verabschiedet wurde und nun stufenweise in Kraft tritt, entwickelt das deutsche Recht im Lichte der UN-Behindertenrechtskonvention weiter. Das SGB IX wird durch das BTHG neugefasst, dabei wird der Rehabilitationsgedanke besonders gestärkt. Eine der wichtigsten Neuerungen: Ab 1. Januar 2018 sollen Menschen mit Behinderungen auch bei komplexen Bedarfslagen und auch bei Zuständigkeit verschiedener Reha-Träger Leistungen „wie aus einer Hand“ erhalten. Künftig ist ein einziger Antrag auf Leistungen zur Teilhabe ausreichend, um ein umfassendes Prüf- und Entscheidungsverfahren in Gang zu setzen. Sogar dann, wenn Träger der Sozialhilfe beziehungsweise ab 2020 Träger der Eingliederungshilfe, Rentenversicherung, Bundesagentur für Arbeit, Unfallversicherung und Krankenkasse für unterschiedliche Leistungen zuständig bleiben. Im Mittelpunkt steht der Mensch und sein Bedarf – wie sich die Träger untereinander organisieren, darum sollen sich Menschen mit Behinderungen nicht mehr kümmern müssen.

Um das sicherzustellen, wird, soweit Leistungen verschiedener Leistungsgruppen oder mehrerer Rehabilitationsträger erforderlich sind, ein verbindliches Teilhabeplanverfahren eingeführt, bei dem nur noch ein Reha-Träger die Maßnahmen koordiniert. Dabei werden die individuellen Unterstützungsleistungen und Bedarfe des Antragstellers in einem Teilhabeplan festgelegt und abgestimmt. Um diese zu ermitteln, können die betroffenen Leistungsträger – die Zustimmung des Antragstellers vorausgesetzt – den Reha-Bedarf in einer Teilhabeplankonferenz beraten. Wenn eine Teilhabekonferenz nach § 20 SGB IX (neu) nicht durchzuführen ist, kann beispielsweise das zuständige Jobcenter zusammen mit dem Leistungsberechtigten und somit mit seiner Zustimmung der Bundesagentur für Arbeit vorschlagen, eine gemeinsame Beratung zur Vorbereitung eines Eingliederungsvorschlags durchzuführen.

Blaues Straßenverkehrsschild mit Rollstuhlsymbol an einer Brücke.

Darüber hinaus sind die Reha-Träger künftig verpflichtet, drohende Behinderungen frühzeitig zu erkennen und ihnen entgegenzuwirken, damit die Erwerbsfähigkeit erhalten bleibt. Nach § 9 Abs. 4 SGB IX-neu sind auch Jobcenter-Mitarbeiter verpflichtet, die für Rehabilitationsfragen zuständigen Stellen einzuschalten, wenn Hinweise auf eine mögliche Gefährdung der Erwerbsfähigkeit vorliegen.

Der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband (DBSV) sieht in den Neuerungen einen wichtigen Schritt für die berufliche Teilhabe von Menschen mit Behinderungen. „Bezogen auf den ersten Arbeitsmarkt erhoffen wir uns davon, dass Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben schneller als bisher erbracht werden“, erklärt Christiane Möller, Rechtsreferentin beim DBSV. „Arbeitsverhältnisse dürfen künftig nicht mehr scheitern, weil die notwendigen Hilfsmittel und Assistenzleistungen nicht zeitgerecht zur Verfügung gestellt werden.“

Damit das BTHG überall optimal umgesetzt wird, gibt es das Internetportal www.umsetzungsbegleitung-bthg.de. Das Portal fördert den Austausch aller an der Umsetzung des Gesetzes beteiligten Leistungsträger. Das können allgemeine Fragen zu Intention, Hintergrund und Regelungsinhalten des Gesetzes sein oder auch sehr spezifische Beiträge zu Themen, die für sie besonders interessant, komplex oder streitbar sind. Das Team des Projektes Umsetzungsbegleitung Bundesteilhabegesetz beantwortet, unterstützt durch Experten, diese Beiträge zum einen mit einer persönlichen E-Mail. Zum anderen werden die Beiträge geordnet, redaktionell aufbereitet und als Fragen-Antworten-Katalog in den sogenannten BTHG-Kompass eingepflegt. Der BTHG-Kompass ist als stetig wachsendes Kompendium zum Gesetz gedacht, das von den Nutzern ebenfalls kommentiert werden kann und sich dadurch immer weiterentwickelt. Darüber hinaus informiert die Internetseite über Veranstaltungen und Online-Fachdiskussionen zu verschiedenen Themen des BTHG.

Zahl der Schwerbehinderten nimmt zu

Wie wichtig es ist, Menschen mit Behinderungen beim Zugang zum Arbeitsmarkt stärker zu unterstützen, machen auch die Zahlen deutlich. Heute leben 16 Prozent der Gesamtbevölkerung mit Beeinträchtigungen. In nur 4 Prozent der Fälle bestehen die Schwerbehinderungen von Geburt an, während 87 Prozent auf Krankheiten zurückzuführen sind, die im Laufe des Lebens erworben wurden. In Verbindung mit steigender Lebenserwartung und zunehmender Alterung der Bevölkerung wird die Zahl der Betroffenen deshalb weiter anwachsen.

Dabei steht zwar mehr als die Hälfte der insgesamt 7,6 Millionen schwerbehinderten Menschen dem Arbeitsmarkt gar nicht zur Verfügung, weil sie über 65 Jahre ist. 3,3 Millionen Menschen mit Schwerbehinderung befinden sich jedoch im erwerbsfähigen Alter zwischen 15 und 65 Jahren. Denjenigen von ihnen, die trotz ihrer Behinderung erwerbsfähig sind, eine Jobperspektive zu geben, muss stärker das Ziel von Jobcentern und Arbeitsagenturen sein. Erfolge sind sichtbar: Wie das Inklusionsbarometer Arbeit der Aktion Mensch zeigt, wächst die Beschäftigungsquote von schwerbehinderten Menschen, die Zahl der Arbeitslosen mit Schwerbehinderung nimmt ab.

Schwerbehinderte Menschen öfter langzeitarbeitslos

Bis zum 31. Dezember 2017 galten Menschen nach § 2 Abs. 1 SGB IX als behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Der Grad der Behinderung (GdB) gibt an, wie schwer die Funktionsbeeinträchtigung ist. Er ist in Zehnerschritten gestaffelt und kann zwischen 20 und 100 variieren. Ab einem GdB von 50 spricht man von Schwerbehinderung.

Mit dem BTHG wurde der Behinderungsbegriff ab dem 1. Januar 2018 neugefasst. Mit der Neudefinition wird das Verständnis von Behinderung aus der UN-BRK in das SGB IX übernommen. Diese orientiert sich nicht mehr allein an körperlichen Zuständen oder Fähigkeiten der Menschen. Vielmehr manifestiert sich eine Behinderung nach der UN-BRK erst durch eine gestörte oder nicht entwickelte Wechselwirkung zwischen dem Individuum und seiner materiellen und sozialen Umwelt.

Trotzdem liegt die Arbeitslosenquote im Jahr 2016 bei schwerbehinderten Menschen auf Basis einer eingeschränkten Bezugsgröße mit jahresdurchschnittlich 12,4 Prozent deutlich höher als eine entsprechend berechnete personenübergreifende Referenzquote für alle arbeitslose Menschen (7,8 Prozent). Dieses Missverhältnis zeigt sich auch bei der Dauer der Erwerbslosigkeit und hier insbesondere bei der Langzeitarbeitslosigkeit: Menschen mit Behinderung suchen im Schnitt mehr als 100 Tage länger nach einem Job als Menschen ohne Behinderung, so das Inklusionsbarometer Arbeit. Während von den nicht-schwerbehinderten Arbeitslosen zudem etwas mehr als ein Drittel ein Jahr und länger ohne Arbeit war, betraf es bei den schwerbehinderten Arbeitslosen beinahe die Hälfte.

Die gesundheitlichen Einschränkungen und das höhere Alter der Arbeitsuchenden mit Behinderung sind laut Bundesagentur für Arbeit die größten Vermittlungshemmnisse. An der Qualifikation liegt es weniger, denn hier schneiden Menschen mit Behinderungen sogar etwas besser ab: 59 Prozent der schwerbehinderten Arbeitslosen konnten 2016 einen Berufs- oder Hochschulabschluss nachweisen, im Vergleich zu nur 51 Prozent der nicht-schwerbehinderten.

Eine junge Frau im Rollstuhl sitzt an einem PC.
Quelle: iStock

Digitale Arbeitswelt: Chance oder Risiko für Menschen mit Behinderungen?

Wenn es darum geht, Menschen mit Behinderungen in Arbeit zu bringen, weckt die Digitalisierung große Hoffnungen. In einer Befragung des Inklusionsbarometers Arbeit (2016) gaben 70 Prozent der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit Behinderung an, dass sie die Digitalisierung vor allem als Chance sehen, zum Beispiel in beschleunigten Arbeitsprozessen oder der Übernahme körperlich anstrengender Arbeiten durch Maschinen. Ähnlich sieht es auch Dr. Dietrich Engels vom Institut für Sozialforschung und Gesellschaftspolitik (ISG) und einer der Autoren des Zweiten Teilhabeberichts der Bundesregierung über die Lebenslagen von Menschen mit Behinderungen: „Durch assistive Technologien können Behinderungen teilweise ausgeglichen werden, etwa durch Screen-Reader für blinde Menschen oder Hörimplantate für Menschen mit Hörbehinderung. Außerdem wird es für Menschen, die in ihrer Mobilität eingeschränkt sind, leichter, Arbeitsaufträge von zu Hause entgegenzunehmen und die Ergebnisse per Internet abzuliefern.“

Für Christiane Möller vom DBSV ist dabei aber klar: „Blinde und sehbehinderte Menschen können von der Digitalisierung nur profitieren, wenn konsequent Barrierefreiheit umgesetzt wird. Fehlende Barrierefreiheit bedeutet Exklusion.„Für Menschen mit psychischen und kognitiven Beeinträchtigungen kann die Digitalisierung sogar eine zusätzliche Hürde sein, weil die Arbeitsprozesse komplexer und fordernder werden. So Engels vom ISG: „Diese Menschen brauchen eine ruhige und von Zeitdruck entlastete Arbeitsumgebung. Die digitale Just-in-time-Produktion bedeutet aber genau das Gegenteil.“ So könnte die Digitalisierung hier auch Risiken hervorbringen.

Was zählt, ist deshalb, dass Menschen mit Behinderungen in Ausbildung und Beschäftigung Rahmenbedingungen vorfinden, die ihre Potenziale fördern und ihnen berufliche Kompetenzen vermitteln. Dazu gehören auch Fort- und Weiterbildungen, um mit der Entwicklung Schritt zu halten. Denn Menschen mit Behinderungen profitieren von einer hohen Qualifikation, wenn diese so spezifisch ist und auf eine solche Nachfrage trifft, dass die Nachteile wegen der Behinderung dadurch ausgeglichen werden.