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Unter Leute kommen

31. Oktober 2018

Von Rückenschmerzen bis zu Depressionen – gesundheitliche Probleme versperren vielen Langzeitarbeitslosen den Weg zurück in die Arbeitswelt. Das Jobcenter Nürnberg-Stadt will daran etwas ändern. Ein Ortsbesuch.

Lachender Mann mit Vollbart vor einem Schild, auf dem "Was ist Stress?" steht.
"Ich komme hier her, um Stress abzubauen": Die Beweggründe, warum die Langzeitarbeitslosen am JobFit-Kurs teilnehmen, sind sehr unterschiedlich Quelle: Jens Wegener

„Wenn Sie auf jemanden treffen, der miese Laune hat, und der sagt Ihnen nichts dazu: Beziehen Sie das nicht sofort auf sich!“ Die Worte hängen eine Weile im Raum. Die Zuhörenden − vier langzeitarbeitslose Männer, zwei Frauen − versuchen, den Gedanken zuzulassen: Projektionen, Bewertungen und Ängste sind höchst ungeeignete Begleiter auf dem Weg in die eigene Zukunft.
Auf dem Gelände der Noris-Arbeit gGmbH am östlichen Stadtrand von Nürnberg werden etwa 400 Langzeitarbeitslose in Arbeitsgelegenheiten betreut. Sechs von ihnen sitzen an diesem Morgen im Innern des Hauses um den Tisch. Es läuft der dritte Teil von JobFit-plus „Und keiner kann es glauben − Stressfaktor Arbeitslosigkeit“. Die zehnteilige Kursreihe wurde für arbeitslose Menschen entwickelt; sie soll helfen, Stress zu bewältigen und die Selbstreflexion zu schulen. „Das Ganze geht zurück auf das Job-Fit-Programm von den Betriebskrankenkassen“, erklärt Kurstrainer Thomas Fink. „Dort hat man beschlossen, sich an den Kosten für die Gesundheitsprävention der Zielgruppe zu beteiligen.“ Und Stress ist ein ausgewiesener Krankmacher, gerade für arbeitslose Menschen.

Wenn die Krankheit im Weg steht

Hier greift ein grundsätzlicher Gedanke: Langzeitarbeitslose können oft nur deshalb schwer vermittelt werden, weil es ihnen gesundheitlich schlecht geht. Seit 2015 erhalten sie deshalb die Gelegenheit, in sogenannte Präventionshandlungsfelder hineinzuschnuppern: Bewegung, Ernährung, Stressmanagement oder Suchtprävention. Was denken die Betroffenen selbst über den Kurs? Eine der beiden Frauen am Tisch sagt: „Ich hab mein ganzes Leben gearbeitet. Jetzt bin ich immer wieder krank geworden, aber ich möchte lernen, damit umzugehen. Dieser Kurs hilft mir dabei.“ Der breitschultrige Mann neben ihr hält seine Kaffeetasse mit beiden Händen. „Ich komme hier her, um Stress abzubauen.“ Von gegenüber kommt eine Antwort, die profan wirkt, aber womöglich den Kern der Sache trifft: „Ich bin hier unter Menschen.“

Fink und Schäfer stehen lächelnd in der Küche am Tresen.
Thomas Fink und Babette Schäfer leiten den Kurs bei der Noris-Arbeit gGmbH. Quelle: Jens Wegener

Projekte aufsetzen ist nicht alles

Jobcenter Nürnberg-Stadt. In dem roten Backsteingebäude trifft sich regelmäßig die Projektgruppe „Gesundheitsorientierung“. Sie steuert die Umsetzung des Modellprojekts „Verzahnung von Arbeits- und Gesundheitsförderung“ innerhalb des Jobcenters und organisiert die JobFit-Kurse bei der Noris-Arbeit gGmbH. Es ist allerdings das eine, Projekte aufzusetzen, und das andere, Menschen damit zu erreichen − vor allem bei persönlichen Themen, die das eigene Verhalten betreffen. Denn wer möchte schon mit seinem Arbeitsvermittler darüber sprechen, dass er das Rauchen aufgeben sollte und mehr Sport treiben könnte?

In der regulären Kundenberatung könne man zunächst nur einen ersten Impuls setzen, entweder weil der Kunde selber frage, oder die Integrationsfachkraft den Anstoß gebe, erklärt Daniela Kardaus, im Jobcenter verantwortlich für das Modellprojekt. Logischer Folgeschritt: eine umfassende Schulung der Jobcenter-Beschäftigten, damit sie sogenannte motivierende Gesundheitsgespräche führen können. Zwei Arbeitsvermittler haben sich auf das Thema spezialisiert. „Sie sind Netzwerker und Botschafter in Sachen Gesundheit“, erklärt Kardaus. Nach außen für die Kunden, und auch nach innen gegenüber den Kolleginnen und Kollegen. Überraschend war, wie schnell viele Arbeitsuchende ihre Jobcenter-Berater als Ansprechpartner auch in Sachen Gesundheit akzeptierten. Das ging nur, weil sie die Vorschläge nicht als Einmischen ins Privatleben empfanden, sondern als ehrliches Hilfsangebot.

Welche der möglichen Maßnahmen sind aber die passenden für die Zielgruppe? Darüber dürften die Meinungen auseinandergehen. Auch Kim-Nicole Retzlaff tat sich zunächst schwer. Die 26-Jährige arbeitet im Gesundheitsamt der Stadt Nürnberg und teilt sich mit Daniela Kardaus die Leitung der Arbeitsgruppe „Gesundheit und Arbeitslosigkeit“. Sie war von der Idee begeistert, den
Arbeitslosen gesundheitsbezogene Präventionsangebote machen zu können. Um nicht an der Zielgruppe vorbeizuplanen, organisierte sie 2017 gemeinsam mit dem Jobcenter eine dreiteilige Erhebung. „Das hat ja auch mit Wertschätzung zu tun, dass man die Menschen selber fragt“, erklärt sie. Geforscht wurde zuerst unter Experten, Arbeitgebern, Jobcoaches und Jobcenter-Mitarbeitern. Als Nächstes liefen drei „Fokusgruppen-Workshops“ für die Zielgruppe: einer für gesundheitlich Eingeschränkte, einer für Alleinerziehende, einer für Familien in Arbeitslosigkeit. Abschließend gab es eine Fragebogenaktion für unter-25-Jährige, die bei fast allen deutschen Jobcentern eine gesonderte Kundengruppe darstellen.

Blick in den NOA Raum mit einem Tisch, an dem Menschen sitzen. Im Vordergrund Topflappen.
Quelle: Jens Wegener

Wichtig ist: Hürden abbauen

Interessanterweise deckten sich die Tipps der Expertinnen und Experten weitgehend mit den Wünschen der arbeitslosen Menschen: Sportangebote, Ausflüge in die Umgebung, Tanzkurse, Entspannungstraining, Stressmanagement. Wie koche ich preisgünstig und trotzdem gesund? Dazu Maßnahmen, um „den inneren Schweinehund“ zu überwinden. „Wir haben die Workshops als sehr ergebnisreich und positiv empfunden“, konstatieren Retzlaff und ihre Workshop-Kollegin Jasmin Strauß. „Einige Teilnehmende haben gleich nach Wiederholungen gefragt.“ Doch nicht nur die Inhalte sind der Zielgruppe wichtig, zunächst müssen häufig Barrieren aus dem Weg geräumt werden. „Wir beobachten, dass viele langzeitarbeitslose Menschen das Thema Gesundheit auf der Prioritätenliste nicht ganz nach oben stellen können“, sagt Rita Wüst, Fachreferentin für Gesundheitsförderung bei der Landeszentrale für Gesundheit in Bayern und kassenseitige Projektverantwortliche. „Da müssen erst ganz andere Hürden genommen werden: Wie wird das Kind betreut? Wie werden die Fahrtkosten getragen? Wie komme ich an die Ausrüstung für den Kurs? Wir müssen diese Fragen klären und die Zuständigkeiten festlegen.“

Porträt Daniela Kardaus, sie hat blonde Haare und trägt eine Brille.
Daniela Kardaus ist verantwortlich für das Modellprojekt "Verzahnung von Arbeits- und Gesundheitsförderung". Quelle: Jens Wegener

Bundesweite Signalwirkung

So ein Projekt passiert natürlich nicht im Selbstlauf. „Man braucht ganz viel Geduld und Hartnäckigkeit, um die vielen Beteiligten einzubinden und zu Verantwortlichen zu machen“, erklärt Daniela Kardaus. „Für uns war der nächste Schritt, uns mit Angeboten zu vernetzen, die es schon gibt, sowie den Kunden den Übergang in die bestehenden Strukturen zu ermöglichen. Und genau das haben wir uns für die aktuelle zweite Phase des Projekts auf die Fahnen geschrieben.“ Diese zweite Phase läuft bis Ende 2019. Die Beteiligten hoffen, dass aus dem Projekt bis dahin ein alltägliches Werkzeug entstanden ist. Aber selbst wenn das nicht gelingen sollte, will der Arbeitskreis die kommunale Vernetzung und Kooperation weiter fortsetzen: mit Sportvereinen, Bildungsträgern, Kitas und Beratungsstellen. Für den Oktober plant das Jobcenter eine Gesundheitswoche im Stadtteilzentrum − mit Aktivitäten für Beschäftigte und Kunden gleichermaßen. Bundesweit sind 125 Standorte an dem Modellprojekt „Verzahnung von Arbeits- und Gesundheitsförderung“ beteiligt, die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung wird die Ergebnisse 2019 auswerten. Die Nürnberger hoffen, dass ganz Deutschland dann gespannt nach Bayern schaut. „Vielleicht können wir im nächsten Jahr hier erste Früchte ernten“, sagt Rita Wüst. Daniela Kardaus’ Statement klingt wie eine Kampfansage: „Ich freue mich über die Dynamik, die das Ganze jetzt aufgenommen hat. Das Thema wird gerade so richtig präsent.“