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Expertengespräch: Prof. Dr. Gottfried Richenhagen

29. Mai 2019

Agilität ist eine Antwort auf eine Welt, die sich immer schneller verändert. Prof. Dr. Gottfried Richenhagen erforscht, wie sich agile Methoden in der öffentlichen Verwaltung umsetzen lassen. Im Gespräch erklärt er, welche Veränderungen agiles Arbeiten mit sich bringt und wie sich öffentliche Organisationen auf den Weg in die Zukunft machen können.

Porträtfoto von Gottfried Richenhagen: Mann mit Anzug, orangener Krawatte und Brille steht in einem Konferenzraum.
Prof. Dr. Gottfried Richenhagen ist wissenschaftlicher Direktor am Institut für Public Management der FOM Hochschule für Oekonomie & Management in Essen. Quelle: FOM

Servicestelle SGB II: Herr Prof. Richenhagen, Agilität ist in aller Munde. Was verbirgt sich eigentlich hinter dem Begriff?
Gottfried Richenhagen: Der Begriff stammt aus dem Lateinischen und bedeutet dort flink, wendig, beweglich, ‚quecksilbrig‘ zu sein. Als Wissenschaftler verstehen wir darunter die Fähigkeit einer Organisation, schnell die Richtung ihres Handelns verändern zu können. Damit verbunden ist ein Paradigmenwechsel: Früher war alles auf Effektivität und Effizienz getrimmt und die Abläufe sollten möglichst klar vordefiniert sein. Heute geht es um Offenheit und eine Verfahrenslogik, die man als kluges Scheitern bezeichnen kann. Dabei reihen sich einzelne Schritte nach dem Muster Versuch-Irrtum aneinander. Früher ging es darum, von Anfang an alles richtig zu machen. Heute wird in Schleifen gearbeitet, an deren Ende ein gutes Ergebnis steht. Diese Logik stammt aus der Programmierung und ist 2001 zum ersten Mal im „Agilen Manifest“ formuliert worden. Dort spricht man bei den einzelnen Verfahrensschritten auch von Sprints.

Servicestelle SGB II: Warum sollten sich Jobcenter und die öffentlichen Verwaltungen auf diese Arbeitsweise einstellen?
Gottfried Richenhagen: Agiles Arbeiten ist eine Reaktion auf veränderte Anforderungen, und mit denen müssen sich auch öffentliche Verwaltung auseinandersetzen. Es gibt drei Treiber: Erstens hat man erkannt, dass am Ende langer Projekte oft Lösungen stehen, die die Kundinnen und Kunden so gar nicht brauchen. Durch agiles Arbeiten kann das Ergebnis in jedem Schritt mit der Zielgruppe rückgekoppelt werden. Zweitens leben wir heute in einer Welt, die durch Unbeständigkeit, Unsicherheit, komplexe Veränderungen und mehrdeutige Situationen gekennzeichnet ist. Denken Sie nur an das Jahr 2015, als plötzlich sehr viele geflüchtete Menschen zeitgleich auf Unterstützung angewiesen waren. In einer solchen Welt muss schnell reagiert werden, in Interaktion mit einer sich verändernden Situation und mit den Bürgerinnen und Bürgern. Der dritte Treiber ist die Digitalisierung, die auch die Verwaltungen zwingt, agil zu arbeiten. Wer sich digitalisieren will, muss agil arbeiten – die Agilität ist die Arbeitsform der Digitalisierung. Dieser Herausforderung können sich auch öffentliche Organisationen nicht entziehen: Die Bürgerinnen und Bürger verlangen es, und auch der Gesetzgeber hat mit dem Onlinezugangsgesetz klare Anforderungen definiert.

Servicestelle SGB II: Wie sieht agiles Arbeiten in der Praxis aus?
Gottfried Richenhagen: Einerseits sind neue Formen der Teamarbeit nötig, bei denen sich Teams selbst organisieren und Aufträge nicht im Voraus an einzelne Mitglieder vergeben sind. Die Teams sind zudem offener im Austausch mit Kundinnen und Kunden und anderen Anspruchsgruppen. Im öffentlichen Bereich bedeutet das, die Bürgerinnen und Bürger mit einzubeziehen. Andererseits muss das Denken in Meilensteinen der Logik des klugen Scheiterns weichen. Diese Idee gibt es unter dem Begriff der lernenden Organisation ja schon seit längerem. Dafür müssen sich schließlich der Umgang mit Zuständigkeiten und auch die Führungsstile ändern. Vereinfacht gesprochen gibt es in der Agilität keine Unzuständigkeit mehr. Im Austausch mit den Bürgerinnen und Bürgern können sich Anforderungen ergeben, für die klassischerweise ganz andere Bereiche zuständig sind. Aus der Führungsperspektive schließlich muss Selbststeuerung in den Teams angeregt, aber eben auch zugelassen werden.

Servicestelle SGB II: Wie schätzen Sie die Voraussetzungen für einen solchen Wandel im öffentlichen Bereich ein?
Gottfried Richenhagen: Insbesondere am dritten gerade genannten Punkt ergeben sich natürlich Schwierigkeiten. In öffentliche Einrichtungen hat man in der Regel gelernt, in eng definierten Zuständigkeiten zu arbeiten, und die Führungsstile sind vielfach sehr kleinschrittig und hierarchisch. Es geht aber nicht darum, die klassische Organisationsform ganz aufzugeben. In vielen Fällen ist sie notwendig, um das Tagesgeschäft effizient zu erledigen. Aber öffentliche Verwaltungen müssen beides können. Dafür ist ein Umdenken notwendig. Häufig wird die Orientierung an gesetzlichen Vorgaben als Standardargument gegen agiles Verwaltungshandeln ins Feld geführt. Doch viele Gesetze schreiben nur vor, welche Ziele zu erreichen sind, und lassen den Weg dazu offen. Es gilt, diese Ermessens- und Handlungsspielräume zu erkennen und zu nutzen. Dass die Digitalisierung von außen gesetzt ist, ist ein fördernder Faktor, der nicht unterschätzt werden darf. Digitalisierung ist ein Türöffner. Hier ergeben sich viele Anknüpfungspunkte für agiles Arbeiten.

Servicestelle SGB II: Mit welchen Ansätzen können öffentliche Verwaltungen und Jobcenter agiles Arbeiten erproben?
Gottfried Richenhagen: Im privatwirtschaftlichen Sektor werden häufig Teams aus der eigentlichen Organisation herausgezogen, um neue Arbeitsformen zu erproben. Auch in einer Kommune oder einem Jobcenter ist das möglich. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter könnten dann im Austausch mit den Bürgerinnen und Bürgern beispielsweise ein Bürgerportal entwickeln, anstatt eine Standardlösung einzukaufen. Das kann man mit einer Experimentierklausel unterfüttern und so Vorschriften lockern und Lernprozesse anstoßen. Aber was in der Praxis funktioniert, muss in vielen Fällen noch erprobt werden. In unserem Projekt AgilKom untersuchen wir zusammen mit Kommunen verschiedene agile Methoden um herauszufinden, was unter welchen Voraussetzungen möglich ist. Im Bereich Führung ist dies etwa Design Thinking, um Dienstleistungen und Geschäftsprozesse zu definieren. Eine weitere Möglichkeit, die auch ganz konkret für Jobcenter anwendbar ist, ist die Organisation in „agilen Arenen“. Dabei überlegen alle zuständigen Stellen – gemeinsam mit den Bürgerinnen und Bürgern – was notwendig wäre, um ein bestimmtes Thema zu bearbeiten. Im Falle der Jobcenter säßen dann eigene Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, Wohlfahrtsträger und weitere Organisationen mit den Leistungsberechtigten an einem Tisch. Die schwedische Gemeinde Ängelholm hat als erste agile Kommune Europas ihr gesamtes Organigramm in diesem Sinne verändert. Soweit muss es nicht gehen, aber es geht im ersten Schritt darum, zu lernen, was überhaupt möglich ist.