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Hintergrundbericht

4. Juni 2018

Chancengleichheit gestalten im SGB II

Vier Frauen sitzen an einem Tisch
Quelle: shutterstock/AYA images

Der Gender Pay Gap: Der Begriff hat sich in jüngster Zeit zum Synonym für die mangelnde Gleichstellung von Frauen und Männern auf dem Arbeitsmarkt entwickelt. Doch die fehlende Balance drückt sich nicht nur in der ungleichen Bezahlung aus, sondern auch in anderen Bereichen. Das zeigt ein Blick in die Zahlen der Jobcenter: Chancenungleichheit spiegelt sich auch in der Integration von Frauen und Männern ins Erwerbsleben wider. Denn die gelingt bei Männern weitaus besser als bei Frauen. So konnte im Jahr 2017 knapp jeder dritte Mann, der Leistungen vom Jobcenter bezog, wieder in Arbeit gebracht werden – aber nur jede fünfte Frau. Warum?

Wie wichtig das Grundrecht auf Gleichstellung von Mann und Frau in Deutschland genommen wird, sieht man daran, wo es im Grundgesetz verankert ist. Bereits in Artikel 3. Dort heißt es nicht nur „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“, sondern es wird auch geregelt, dass der Staat eine aktive Rolle dabei spielen soll, Mängel in der Chancengleichheit zu beseitigen: „Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin“. Hierauf baut das SGB II auf, indem es schon in § 1 die Gleichstellung von Männern und Frauen als grundlegendes Prinzip der Arbeit der Jobcenter definiert.

Es liegt nicht nur an den Kindern

Woher aber kommen die Unterschiede zwischen Männern und Frauen in der Umsetzung des SGB II? Ein erster Verdacht liegt nahe: Die Kinderbetreuung. Die übernehmen immer noch größtenteils Frauen. Das bedeutet, dass sie weniger Zeit haben, um zu arbeiten. Zumal der Job auch noch zu den Öffnungszeiten von Schule oder Kindergarten passen muss. Allerdings räumt ein näherer Blick in die Statistik mit dieser allzu einfachen Erklärung auf. Denn die Zahlen zeigen: Die fehlende Gleichstellung der Geschlechter tritt zwar deutlicher hervor, wenn Mann und Frau nicht als Singles, sondern in einer Bedarfsgemeinschaft mit Kindern leben. Aber auch Frauen in Bedarfsgemeinschaften ohne Kinder finden schwerer eine Arbeit als Alleinstehende. Kinder verstärken also die Ungleichheit, sind aber nicht ursächlich. Folgende vier Szenarien verdeutlichen das:

Szenario 1: Ein Mann und eine Frau leben in einer Bedarfsgemeinschaft ohne Kind. Hier schafft es jeder vierte Mann ins Erwerbsleben, aber nur jede siebte Frau.

Szenario 2: Ein Mann und eine Frau leben in einer Bedarfsgemeinschaft mit Kindern. Etwas mehr als jeder dritte Mann nimmt hier eine Erwerbstätigkeit auf, allerdings nur rund jede achte Frau.

Szenario 3: Eine Frau oder ein Mann ist alleinerziehend und bezieht Leistungen vom Jobcenter. Hier schafft es gut jede fünfte Frau und jeder vierte Mann aus dem Leistungsbezug.

Szenario 4: Eine alleinstehende Frau und ein alleinstehender Mann, die jeweils Leistungen vom Jobcenter beziehen: Jede vierte Frau findet hier einen Job, fast jeder dritte Mann.

Die Zahlen sprechen Bände: 50 Prozent mehr Männer als Frauen können den Leistungsbezug hinter sich lassen und sogar doppelt so viele Männer wie Frauen finden aus einer Bedarfsgemeinschaft heraus den Weg ins Arbeitsleben. Das ist mehr als ein einmaliger statistischer Effekt, sondern ein starkes Missverhältnis.

Mutter und Kind spielen mit einem Spielzeugauto.
Quelle: shutterstock/Milan Ilic Photographer

Die Arbeitswelt im Wandel

Doch wenn Kinder nicht die alleinige Ursache für den Unterschied bei den Integrationsquoten sind, was steckt dann dahinter? Beispielsweise könnte auch eine gewisse Angst der Arbeitgeber eine Rolle spielen, kinderlose Frauen im gebärfähigen Alter einzustellen, weil diese potentiell schwanger werden könnten. Auch die Tatsache, dass doppelt so viele Frauen wie Männer ihre Angehörigen pflegen, könnte sich auf deren Vermittelbarkeit auswirken. Weitere mögliche Gründe kennen diejenigen am besten, die sich Tag für Tag dafür einsetzen, dass Leistungsempfängerinnen und Leistungsempfänger eine Arbeitsstelle finden: Die Mitarbeitenden der Jobcenter. Eine von ihnen ist Claudia Bengelsdorf, Beauftragte für Chancengleichheit am Arbeitsmarkt im Jobcenter Salzgitter. Das Phänomen fehlender Chancengleichheit ist ihr gut bekannt. Seit Jahren, erzählt sie, mache sie die Erfahrung, dass Frauen schwerer eine Arbeit finden als Männer. Warum das so ist, darauf hat sie nicht eine, sondern viele Antworten. Und sie zeigen: Jede Situation muss individuell betrachtet werden. Öffentliche Strukturen müssen dabei genauso in den Blick genommen werden wie individuelle Familienverhältnisse, Lebensläufe, persönliche Prägung und Motivation, Bildungsstand und lokale Gegebenheiten. Überall dort können sich Strukturen und Erwartungsmuster verstecken, die sich für Frauen bei der Integration in den Arbeitsmarkt als nachteilig erweisen.

Beispiel Salzgitter: Die Stadt ist industriell geprägt. Fünf große Konzerne mit zahlreichen Zulieferbetrieben prägen das Stadtbild. Doch was einst Arbeiterinnen und Arbeiter zusammenschraubten, erledigen heute Maschinen. „Früher waren viele Frauen ohne höhere Ausbildung in der Montage tätig, heute gibt es für sie dort kaum noch Jobs“, sagt Claudia Bengelsdorf. Gleichzeitig ist in Salzgitter der Dienstleistungssektor – eine klassische Frauenbranche – weniger stark ausgeprägt. Wohin sollen die Frauen nun also vermittelt werden? Vor allem, wenn sie Kinder haben? Denn: „Wie sollen die Frauen mit den vorhandenen Betreuungsangeboten – oftmals nur vier Stunden am Vormittag – einen Arbeitsplatz finden?“, fragt Bengelsdorf. Allerdings sind Alleinerziehende erfolgreicher dabei, wieder Arbeit zu finden, trotz der teilweisen schwierigen Kita-Situation. Hilft ihnen eine besondere Motivation? Claudia Bengelsdorf erlebt sie oftmals aktiver. Sie seien bereit, mehr auf sich zu nehmen, um sich auf dem Arbeitsmarkt zu platzieren. „Weil sie sehen: Ich bin die Einzige, die für das Einkommen sorgen kann.“

Kulturelle Vorbehalte

Salzgitter hat in der letzten Zeit viele geflüchtete Menschen aufgenommen. Das beeinflusst zunehmend die Arbeit im Jobcenter. Aber auch Menschen, die schon früher aus dem Ausland kamen, sitzen manchmal vor den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Jobcenters in Salzgitter. Bei vielen Kundinnen mit Migrations- oder Fluchtgeschichte erschweren nicht nur ein traditionelles Rollenverständnis die Vermittlung in Arbeit, sondern teilweise auch eine sehr kurze Schulbildung oder jahrelange Kindererziehung ohne Erwerbstätigkeit. Frauen, die direkt nach dem Schulabschluss Kinder bekommen haben und mit Mitte dreißig oder Mitte vierzig einen Berufsabschluss erwerben, bekämen häufig keine Chance auf eine dauerhafte Integration am Arbeitsmarkt, stellt Claudia Bengelsdorf fest. „Aber gerade diese Vorbilder sind gesellschaftlich so wichtig, denn mit dem Einzug der Digitalisierung werden wir unsere Kundinnen und Kunden nur durch Qualifizierung und Weiterbildung voranbringen“, sagt sie.

Und dieses Rollenbild von den Frauen am Herd und den Männern als Versorger – gibt es das nur bei Zugewanderten? Eine Untersuchung der Hans-Böckler-Stiftung über die Frauenförderquote legt die Vermutung nahe, dass alte Rollenklischees auch Männer und Frauen prägen, die in Deutschland sozialisiert wurden. Denn herausgefunden wurde, dass die Förderquote von Frauen in Westdeutschland in den vergangenen Jahren immer unterhalb des vorgegebenen Ziels lag. In Ostdeutschland jedoch nicht. Dort lag sie sogar noch ein bisschen darüber. Setzen sich hier die Rollenbilder fort, die die DDR-Gesellschaft und die ehemals westdeutsche Gesellschaft gelebt haben? Und wenn ja, bei wem? Sind es die Frauen und Männer, die Leistungen nach dem SGB II beziehen? Oder eher die Vermittlerinnen und Vermittler? Wollen oder trauen sich Frauen in Westdeutschland weniger oft, an Fortbildungen teilzunehmen, weil sie sich weniger in der Rolle der Verdienenden sehen? Oder weil sie weniger als Männer daran glauben, überhaupt gut genug für einen Job zu sein? Werden Frauen in Westdeutschland weniger gefördert, weil die vermittelnden Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Jobcenter unbewusst erstmal den Mann in Arbeit bringen wollen? Viele offene Fragen, auf die die Beschäftigten in den Jobcentern eine Antwort finden müssen, wenn sie Gleichstellung umsetzen wollen.

In Brandenburg an der Havel ähnelt die Situation nur zum Teil der in Salzgitter. Denn die Kita-Betreuung ist besser aufgestellt. Aber reicht das aus? Gabriele Bischoff ist Beauftragte für Chancengleichheit am Arbeitsmarkt im örtlichen Jobcenter. „Die Kita-Situation ist bei uns schon besser als im Westen“, bestätigt sie. „Und es werden gerade weiterhin neue Kitas gebaut. Aber zufriedenstellend ist die Betreuungssituation trotzdem nicht.“ Das größte Problem sieht sie aber weniger bei den Öffnungszeiten der Kitas als bei den Kindererziehungszeiten. Eigentlich sollen sie etwas Gutes bezwecken. Wenn Frauen aber mehrere Kinder bekommen und jedes Mal bis zu drei Jahre pausieren, seien sie bald so lange aus dem Arbeitsleben heraus, dass es schwer werde, in den Beruf zurückzufinden, gibt Bischoff zu Bedenken. Zumal sich die Arbeitswelt immer schneller wandele. Hinzu kommt die Schichtarbeit. Das Problem sei, dass die klassischen Frauenberufe davon besonders betroffen sind: Pflegearbeit, Gastronomie und Einzelhandel. Gerade für Alleinerziehende kämen diese Berufe kaum in Frage. Nachts und am Wochenende sind Kitas in der Regel nicht geöffnet. Bischoff sieht da auch die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber in der Pflicht. Und wenn ein Partner da ist, bringt er sich genug bei Haushalt und Kindererziehung ein? Im Gleichstellungsbericht der Bundesregierung von 2017 ist die Rede davon, dass Frauen immer noch eineinhalb Mal so viel unbezahlte Arbeit wie Kinderfürsorge oder Pflege übernehmen wie Männer. Auch ein Bericht der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) kommt hier zu ernüchternden Ergebnissen. Frauen mit Kindern in Deutschland leisten deutlich mehr unbezahlte Arbeit und deutlich weniger bezahlte Arbeit als Männer.

Eine Frau sitzt vor einem Computer.
Quelle: shutterstock/ESB Professional

Von Chancengleichheit profitieren alle

Wenn Wege gefunden werden, um mehr Frauen in den Arbeitsmarkt zu integrieren, gewinnen alle, nicht nur die Frauen. Für Eltern mit Kindern ist es die Möglichkeit, ein Vorbild zu sein und den Teufelskreis aus generationenübergreifendem SGB II-Bezug zu durchbrechen. Jobcenter können dann wiederum verstärkt Erfolge verbuchen, weil sie mehr Menschen insgesamt in Arbeit bringen. Und mehr noch: Sie können davon ausgehen, dass weniger zurückkommen. Denn die Integrationen von Frauen sind generell nachhaltiger und Bedarfsgemeinschaften können in der Regel nur dann nachhaltig aus dem Leistungsbezug entlassen werden, wenn beide Partner arbeiten gehen. Denn die Lebenserhaltungskosten steigen kontinuierlich und viele arbeiten in Branchen mit eher geringem Einkommen, von dem ein verdienender Partner nicht immer eine Familie ernähren kann. Und schließlich profitiert das ganze Land davon, wenn beide Partner arbeiten. Jüngst analysierte die Süddeutsche Zeitung einen Bericht der OECD über Gesellschaften, in denen viele Frauen arbeiten. Fazit: Je mehr Frauen erwerbstätig sind, desto stärker prosperiert die Wirtschaft.

Die Ursachen für mangelnde Chancengleichheit sind vielschichtig. Wie Claudia Bengelsdorf und Gabriele Bischoff deutlich gemacht haben, liegen sie zum Teil auch außerhalb des Einflussbereichs der Jobcenter. Claudia Bengelsdorf ist daher überzeugt: „Nur gemeinsam mit allen Akteuren werden wir gute Lösungen finden.“ Sie berichtet von einem Arbeitgeber, der seinen Produktionsbetrieb von einem Drei-Schicht- auf ein Vier-Schichtsystem umgestellt hat und somit einen Wiedereinstieg nach einer Familienphase für seine Mitarbeitenden bewusst erleichterte – so könne gelebte Familienfreundlichkeit im Unternehmen auch dem Fachkräftemangel entgegenwirken.

Wie können also die Mitarbeitenden der Jobcenter einen konkreten Beitrag zu mehr Chancengleichheit leisten? Können sie zum Abbau des traditionellen Rollenverständnisses zwischen Mann und Frau beitragen? Helfen Angebote, die sich speziell an Frauen richten? Oder an Männer, um Rollenklischees abzubauen? Sollen potentielle Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber stärker in den Vermittlungsprozess eingebunden werden, um passende Stellen für Frauen zu finden, die Kinder erziehen oder Angehörige pflegen?

Sicher gibt es bereits viele gute und erfolgreiche Projekte in Jobcentern in ganz Deutschland. Wir freuen uns, wenn Sie Ihre „Gute Praxis-Beispiele“ zum Thema Chancengleichheit bei der Servicestelle einsenden.

Um mehr Klarheit darüber zu erhalten, wo im individuellen Jobcenter konkreter Handlungsbedarf für mehr Chancengleichheit besteht, können Jobcenter-Geschäftsführungen auf verschiedene Monitoring-Instrumente zurückgreifen. Drei davon stellen wir hier vergleichend dar.