Navigation und Service

Klaus Bermig: „Das Bürgergeld-Gesetz gibt langjähriger guter Jobcenter-Praxis einen sicheren rechtlichen Rahmen“

19. Januar 2023

Wie ist das Bürgergeld-Gesetz entstanden? Wer hat daran mitgearbeitet? Und seit wann? Dr. Klaus Bermig, der zuständige Unterabteilungsleiter aus dem Bundesarbeitsministerium (BMAS), gibt einen Einblick in die Entstehungsgeschichte des Bürgergelds.

Dr. Klaus Bermig
Dr. Klaus Bermig bei der diesjährigen Konferenz der Netzwerke ABC in Berlin Quelle: Luca Abbiento für die Servicestelle SGB II

Wann wurde mit der Erstellung des Referentenentwurfs zum Bürgergeld-Gesetz im BMAS begonnen und wie läuft dieser Prozess konkret ab? Wie lange hat es z. B. gedauert, bis ein erster grober, aber bereits weitestgehend vollständiger Entwurf vorlag?

Dr. Klaus Bermig: Eine so umfangreiche und grundlegende Weiterentwicklung wie das Bürgergeld-Gesetz entwirft man nicht von einer Woche auf die andere am Reißbrett. Das Gesetz geht zurück auf Erkenntnisse und Erfahrungen, die wir hier im Haus sammeln und bewerten durften. Zum Gesamtbild haben auch sehr viele Rückmeldungen und Anregungen aus der Praxis der Jobcenter ganz wesentlich beigetragen. Die Fachkolleginnen und -kollegen haben also nicht bei null anfangen müssen. Es gab umfangreiche Vorüberlegungen, auf die aufgesetzt werden konnte: so z.B. den von Bundesminister Hubertus Heil angestoßenen Zukunftsdialog im Jahr 2019, den fortlaufenden Austausch mit dem IAB und nicht zuletzt den regelmäßigen Kontakt mit der operativen Ebene der BA.  In der neuen Legislaturperiode musste dann zunächst eine Verständigung dazu gefunden werden, welche dieser Themen auf der Grundlage des Koalitionsvertrages vorrangig umgesetzt werden sollten und wie dies am besten und nachhaltigsten gelingen könnte. Aus diesen Überlegungen ergab sich dann der Gesetzentwurf, der Anfang August 2022 in die nicht immer einfache Abstimmung innerhalb der Bundesregierung gehen und den Ländern und Verbänden - und natürlich auch der BA - zur Stellungahme vorgelegt werden konnte.

Welche Rolle spielt der Koalitionsvertrag 2021 – 2025 zwischen der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD), BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN und den Freien Demokraten (FDP) in dem gesamten Prozess?

Dr. Klaus Bermig: Der Koalitionsvertrag hat Orientierung und Leitplanken für die fachliche Gestaltung des Bürgergeld-Gesetzes geboten, mit dem die Kernelemente der Reform umgesetzt werden sollten. Beispiele sind die Karenzzeiten für Wohnen und Vermögen, die Abschaffung des Vermittlungsvorrangs, das neue Weiterbildungsgeld. An einigen Stellen ließen die Vereinbarungen des Koalitionsvertrages Raum für Interpretation. Da galt es, praxisnahe Lösungen im Sinne des Gesamtprojekts zu finden. Die Erheblichkeitsgrenze beim Vermögen in der Karenzzeit wurde im Koalitionsvertrag beispielsweise gar nicht bezeichnet - wirklich sinnvoll erscheint aber nur eine Regelung mit einer Erheblichkeitsgrenze, denn sonst hätte der Zugang in die Grundsicherungssysteme auch Menschen mit sehr hohem Vermögen offen gestanden.

Der Koalitionsvertrag beschreibt auch weitere Schritte im Kontext Bürgergeld. Diese Themen brauchen einen Vorlauf, daher können sie erst zu gegebener Zeit umgesetzt werden, gesetzlich oder im Verwaltungswege. Dazu gehört etwa die Neujustierung der Einkommensfreigrenzen, oder die kritische Überprüfung der Grundlagen und Anwendung der Zielsteuerung Für ersteren Komplex sollen Ergebnisse eines Forscherkonsortiums die Basis liefern. Für das letztgenannte Thema müssen wir uns wirklich die Zeit nehmen, die es benötigt, auch wenn es uns das ganze Jahr 2023 über beschäftigten sollte. Aus meiner persönlichen Sicht ist hier eine ergebnisoffene Prüfung gemeinsam mit allen Beteiligten angezeigt.

Auch die Bundesagentur für Arbeit (BA) hat im Rahmen der durchgeführten Verbändeanhörung eine Stellungnahme zu dem Referentenentwurf des Bürgergeld-Gesetzes abgegeben. Welche Schritte erfolgten nach der Verbändeanhörung und welche Rolle spielen dabei die verschiedenen Stellungnahmen?

Dr. Klaus Bermig: Die Kolleginnen und Kollegen haben alle hier eingegangenen Stellungnahmen sorgfältig ausgewertet. Der Stellungnahme der BA kam natürlich besondere Bedeutung zu, weil Einschätzungen der BA in der Regel zentrale Hinweise darauf geben, welche Auswirkungen ein Vorhaben hat, wie es verwaltungspraktisch auf die Strecke zu bringen ist und allen den Zeitrahmen und Vorlauf abstecken, den man dafür einplanen muss. Die Stellungnahmen sind gemeinsam mit den Rückmeldungen aus den anderen Ministerien dann in einem finalen Entwurf konsolidiert worden. Dieser sogenannte Regierungsentwurf wurde am 14. September 2022 vom Bundeskabinett beschlossen.

War das BMAS nach dem 14. September 2022, als Kabinettbeschluss und Regierungsentwurf vorlagen, fertig mit der Arbeit an dem Gesetz?

Dr. Klaus Bermig: Als das Gesetz in den Bundestag eingebracht und damit dem Gesetzgeber überantwortet wurde, war der ganz aktive Part des BMAS nur für einen Moment abgeschlossen. Das zuständige Bundesministerium steht den Abgeordneten im parlamentarischen Verfahren weiterhin mit seiner Fachexpertise zur Seite, wenn das erbeten wird. Ganz sprichwörtlich sitzen die zuständigen Fachkolleginnen und -kollegen dann in den Ausschüssen in der „Hinterreihe“, um in den Beratungen aufkommende Fragen zu beantworten, sowie Hinweise und Einschätzungen zu geben. Das ist aufwändig und geht nicht selten bis in die frühen Morgenstunden. Aber alle Anstrengung lohnt sich, wenn sich das Ergebnis sehen lassen kann. Und das ist beim Bürgergeld-Gesetz meiner Meinung nach der Fall.

Nun gilt es, die Einführung des Bürgergeldes mit seinen Neuregelungen gut vorzubereiten und die Praxis, die es dann umsetzen soll, umfassend zu informieren und zu unterstützen.

Der Regierungsentwurf enthielt im Vergleich zum Referentenentwurf schon einige Anpassungen, diese Fassung wurde dann durch Bundestag und Bundesrat nochmal geändert. Hatten Sie damit gerechnet, dass es im parlamentarischen Verfahren zu – mitunter weitreichenden – Änderungen kommen würde?

Dr. Klaus Bermig: Im parlamentarischen Verfahren ist es normal, dass der Gesetzentwurf, den die Bundesregierung vorlegt, nicht schon das Endergebnis im Gesetzgebungsprozess darstellt. Natürlich ist es Aufgabe des Parlaments, den Gesetzentwurf so zu gestalten, wie es dem politischen Mehrheitswillen entspricht. Es ist so, wie es einmal der damalige Fraktionsvorsitzende der SPD, Dr. Peter Struck, in seinem sogenannten Ersten Struckschen Gesetz beschrieben hat: „Kein Gesetz kommt aus dem Parlament so heraus, wie es hineingegangen ist.“

Das Bürgergeld begegnete während des parlamentarischen Verfahrens zum Teil weitreichender öffentlicher Kritik. Wie sind Sie damit umgegangen und wie haben Sie versucht, dieser Kritik zu begegnen?

Dr. Klaus Bermig: Ein essenzieller Bestandteil demokratischer Prozesse ist es, dass unterschiedliche, teilweise auch sehr divergierende Standpunkte entwickelt und artikuliert werden. Die Grundsicherung für Arbeitsuchende war insoweit in den vergangenen 15 Jahren Projektionsfläche so mancher sozialpolitischen Konzeption oder Idee. Man kann also sagen: im SGB II sind wir Kritik gewohnt, auch solche, die sachlich nicht fundiert ist. Ein parlamentarisches Verfahren bringt es außerdem häufig mit sich, dass von verschiedener Seite in Politik und Medien auch solche Fragen thematisiert werden, die mit dem zur Beratung anstehenden Gesetzentwurf wenig oder gar nichts zu tun haben. Für uns hier im Ministerium ist das nichts Neues, wir können das ganz gut einordnen. Für die Fachöffentlichkeit und besonders für die Beschäftigten in den Jobcentern Praxis führt das aber nicht selten zu Verunsicherung, da leicht der Eindruck entstehen kann, als bedeute jedwede öffentlich diskutierte Forderung automatisch eine Änderung des Gesetzes. Das ist immer dann deutlich zu spüren, wenn jemand Positionen sehr laut und vernehmbar nach außen trägt, seien sie in der Sache auch noch so unbegründet oder unberechtigt. Leider muss ich sagen, gibt es noch kein Patentrezept dafür, wie man solche Irritationen vermeiden kann. Am besten hilft eine klare Kommunikation, in die Öffentlichkeit und in Richtung der Fachleute. Als Beispiel mag die These dienen, nach Einführung des Bürgergeldes lohne sich das Arbeiten nicht mehr. Hier war es dann unsere Aufgabe, Presse, Politik und Öffentlichkeit fachlich richtige Informationen zur Verfügung zu stellen. Bemerkenswert fand ich allerdings, dass sich Kritik - wie sonst leider häufig - nicht gegen die Jobcenter und ihre Beschäftigten gerichtet hat, sondern ausschließlich über den gesetzlichen Rahmen gestritten wurde. Das finde ich gut und richtig. Denn es deutet darauf hin, dass es mittlerweile einen breiten Konsens zu der Frage gibt, welch bedeutsame Rolle die Jobcenter für die Bewahrung des sozialen Friedens in Deutschland spielen. Was das Gesetz anbetrifft: Ich denke, dass die vielen konstruktiven Ergänzungen und Veränderungen im parlamentarischen Verfahren das Gesamtwerk besser und tragfähiger gemacht haben. Beispielsweise sind die neuen Ideen rund um den Kooperationsplan für die Jobcenter einfacher und besser handhabbar geworden. Sachwidrige Kritik hat sich nach dem Kompromiss im Vermittlungsausschuss dann weitestgehend gelegt.

Die Einführung des Bürgergelds und dazugehöriger Änderungen begründen eine bedeutende sozialpolitische Reform mit dem Ziel, gesetzliche Rahmenbedingungen dafür zu schaffen, dass Menschen im existenzsichernden Leistungsbezug sich stärker auf Qualifizierung, Weiterbildung und die Arbeitsuche konzentrieren können. Welche Neuerung bzw. Änderung im SGB II trägt diesem Gedanken nach Ihrer Einschätzung am meisten Rechnung?

Dr. Klaus Bermig: Man muss sich immer wieder vor Augen führen, warum und für wen es das Bürgergeld gibt: Es hilft Menschen in Not und unterstützt sie bei der Suche nach neuen und nachhaltigen Lebens- und Arbeitsperspektiven. Für alle Praktiker ist das nichts Neues, aber der Arbeitsmarkt heute ist nicht mehr derselbe wie 2005, als die Grundsicherung für Arbeitsuchende eingeführt wurde. Statt Massenarbeitslosigkeit gibt es einen Fach- und Arbeitskräftemangel. Das Bürgergeld ist eine Antwort auf die Fragen, die sich daraus ergeben.

Langzeitarbeitslose Menschen sollten noch mehr Chancen am Arbeitsmarkt haben. Das Bürgergeld setzt auf eine noch bessere Kooperation der Leistungsberechtigten mit den Jobcentern, ohne unnötige Bürokratie, mit mehr Unterstützung bei individuellen Schwierigkeiten und mit besseren Weiterbildungsmöglichkeiten. Rund zwei Drittel der erwerbsfähigen Leistungsberechtigen haben keinen verwertbaren Berufsabschluss. Ein Schwerpunkt des Bürgergeld-Gesetzes ist deshalb die Abschaffung des Vermittlungsvorrangs. Es geht nicht mehr darum, jemanden schnell in irgendeinen Job zu vermitteln. Denn von einem Drehtür-Effekt profitiert niemand. Aber: Eine Weiterbildung erfolgreich abzuschließen kostet Kraft und bedeutet manchmal, längere Zeit im Leistungsbezug zu bleiben. Mit dem Bürgergeld werden die Integrationsfachkräfte mehr anbieten können, um die Bildungsanstrengungen der Menschen finanziell zu unterstützen.

Und bei der Überwindung der individuellen Schwierigkeiten wird vor allem das neue Angebot Coaching helfen. Aufbauend auf den guten Erfahrungen des Sozialen Arbeitsmarkts ist das meiner Meinung nach ein guter Ansatz, um die Menschen noch zielgenauer zu unterstützen.

Im Kooperationsplan wird in klarer und verständlicher Sprache der „rote Faden“, der Weg in Arbeit, festgehalten - so, wie es viele Jobcenter-Beschäftigte schon lange gefordert hatten. Der Kooperationsplan funktioniert ohne Rechtsfolgenbelehrung. Er setzt damit noch mehr als bisher auf die gute Beziehung zwischen Jobcenter-Beschäftigten und Leistungsbeziehenden.

Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Das Bürgergeld-Gesetz ist kein Nachhilfeunterricht des Gesetzgebers für die Arbeit der Jobcenter. Man kann sagen, es ist in vielen Teilen genau andersherum: Mit dem Bürgergeld-Gesetz wird einer seit Jahren vielerorts schon gelebten guten Praxis der Jobcenter nun ein rechtlich sicherer Rahmen gegeben.

Dass am Ende des Gesetzgebungsverfahrens im Vermittlungsausschuss ein sehr breiter Konsens in der Sache erzielt worden ist - das Ergebnis hat eine überragend große Mehrheit im Bundestag gebilligt und im Bundesrat haben 15 Bundesländer zugestimmt - stimmt mich sehr positiv für die jetzt anstehende Umsetzung.

Mehr Informationen zum Bürgergeld finden Sie auf unserer Themenseite.