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Prof. Dr. Niko Kohls: „Resilienz hat vor allem mit Lernfähigkeit zu tun“

11. November 2022

Seit mehr als 20 Jahren beschäftigt sich Prof. Dr. Niko Kohls mit den Zusammenhängen zwischen Achtsamkeit, Resilienz, Gesundheit und Leistungsfähigkeit. Im Interview erläutert der Medizinpsychologe, warum resiliente Menschen gelassener durchs Leben gehen, wie sich Resilienz trainieren lässt und welche Vorteile sich dadurch für den Arbeitsalltag ergeben.

Prof. Dr. Niko Kohls.
Prof. Dr. Niko Kohls forscht unter anderem zum Thema Stress.

Zur Person: Der Medizinpsychologe Prof. Dr. Niko Kohls forscht seit mehr als 20 Jahren unter anderem zu Achtsamkeit und Resilienz und deren Auswirkungen auf Gesundheit und Lebensqualität. Seit 2013 lehrt er an der Hochschule für angewandte Wissenschaften Coburg im Bereich Gesundheitsförderung. Sein im Juni 2022 im Südwest Verlag erschienenes Buch „Mehr Lebensfreude durch Achtsamkeit und Resilienz“ erläutert, wie sich Resilienz aufbauen und dadurch ein Leben in Balance führen lässt. Mehr Infos auf seiner Website.

Herr Prof. Dr. Kohls, Sie haben einen vollen Terminkalender: Sie lehren, forschen, halten Vorträge. Wie schaffen Sie es, in Ihrem Alltag achtsam zu bleiben?

Zum einen habe ich eine sehr klare Tagesstruktur. Täglich morgens nach dem Aufstehen und abends vor dem Zubettgehen mache ich Achtsamkeitsübungen oder widme mich kurz, aber intensiv meiner Selbstreflexion – wo auch immer ich bin. Damit zentriere ich mich und verankere meinen Tag zwischen Wach- und Schlafrhythmus. Ich habe realisiert, dass es für mich nicht allzu gut funktioniert, die Übungen zu willkürlichen Zeiten zu machen: Da kann immer etwas dazwischenkommen. Zum anderen habe ich gelernt, meinen Terminkalender nicht mehr zu voll zu packen. Ich bin immer wieder erstaunt, wenn ich Menschen erlebe, die im Grunde nur eine Aneinandertaktung von Ereignissen in ihrem Kalender haben. Dadurch bleibt der Psyche keine Zeit mehr, das Erlebte überhaupt als sinnhaft miteinander verbundene, aber auch getrennte Episoden zu verarbeiten. Im Sinne von sogenannter Psychohygiene sind aber gerade diese Auszeiten extrem wichtig – im Idealfall in Verbindung mit Bewegung: Wenn Sie das nächste Mal ein Meeting haben, nehmen Sie die Treppe und gehen im Idealfall noch einmal um das Gebäude herum.

Achtsamkeit und Resilienz sind mittlerweile in aller Munde. Doch was genau verbirgt sich aus wissenschaftlicher Sicht hinter den Begriffen und wie bedingen sie einander?

Achtsamkeit ist die Fähigkeit, den gegenwärtigen Moment so wahrzunehmen, wie er eben ist – ohne sich sofort durch emotionale Bewertungen wegreißen zu lassen. Nehmen wir die Atmung als Beispiel: Die meisten Menschen können sich ein, zwei Atemzüge gut auf ihre Atmung konzentrieren, bevor es schwierig wird. Dann kommen irgendwelche Gedanken, und mit ihnen die Bewertungen. Achtsamkeit bedeutet im Grunde, genau diese ungeplanten Gedanken wertfrei im Hier und Jetzt zu betrachten und sie dann gehen zu lassen. So kann jeder Mensch lernen, seine Aufmerksamkeit zu fokussieren, aber auch zu weiten. Diese Änderung von Aufmerksamkeitsprozessen ist eine Grundvoraussetzung für Resilienz. Sie wird häufig als Widerstandsfähigkeit beschrieben, bedeutet jedoch mehr: Resilient zu sein heißt auch, sich entwickeln und wachsen zu können. Dafür ist ein bestimmter Bewusstseinszustand nötig. Man kann so lernen, die Dinge zu verändern, die man verändern kann. Auf der anderen Seite heißt dies aber auch, die Dinge zu akzeptieren, die man eben nicht verändern kann. Resilienz hat nicht nur etwas mit Stressresistenz zu tun, sondern vor allem auch mit offener, dynamischer und letztlich auch staunender Lernfähigkeit.

Sie sagen, Resilienz lasse sich durch die Verbindung von Achtsamkeit und Selbstregulation erlernen. Was genau bedeutet Selbstregulation?

Alle biologischen Systeme verfügen über Selbstregulationsfähigkeiten. Bestimmte Kreisläufe in unserem Organismus steuern etwa die Körpertemperatur oder das Hungergefühl – und bei uns Menschen eben auch die psychische Befindlichkeit, oder konkreter: die Emotionen. Emotionen können wir nicht abstellen und das ist auch gut so. Aber ihre Wahrnehmung können wir, im Gegensatz zu vielen anderen Prozessen, zumindest teilweise regulieren. Das können wir lernen. Wenn wir beispielsweise mit einer schwierigen Person zu tun haben, können wir uns auf deren in unseren Augen negative Eigenschaften fokussieren und uns fürchterlich aufregen. Oder aber wir lenken unseren Blick ganz bewusst auf positive Aspekte und akzeptieren diejenigen, die uns zwar nicht gefallen, aber die wir nicht ändern können. Genau diesen Perspektivwechsel kann man lernen – und so den Grundstein für Achtsamkeit, damit einhergehend wertfreie Wahrnehmung und letztlich Resilienz legen.

Resilienz wird manchmal auch als „mentales Immunsystem“ umschrieben. Über welche konkreten Eigenschaften verfügen resiliente Menschen?

Resiliente Menschen sehen sogenannte Anomalien, die die bisherige Normalität ins Wanken bringen, als herausfordernde Chance. Eine Anomalie – also eine Veränderung – kann im Grunde alles sein: der unerwartete Stau auf dem Weg zur Arbeit, ein schwieriges Gespräch, einschneidende Ereignisse im Privatleben oder eine schlimme Diagnose. Resiliente Menschen fragen sich in solchen Momenten: „Wie kann ich die Anomalie wieder aufheben, oder zumindest so mit ihr umgehen, dass ich mich nicht vollständig überfordere? Und was kann ich daraus für mich lernen?“ Aus dieser Perspektive sind Anomalien – bei allen Schwierigkeiten – Möglichkeiten, um zu wachsen, und resiliente Menschen haben diese Wahrnehmungsoption verinnerlicht. Sie sind entsprechend sehr lernfähig und sich zudem ihrer eigenen Überlastungsgrenzen bewusst. Die Stanford-Psychologin Carol Dweck hat dafür den Begriff „Growth-Mindset“ geprägt.

Wo setzen Jobcenter-Mitarbeitende am besten an, wenn sie resilienter werden möchten?

Das Wichtigste ist wohl das echte Interesse am Gegenüber, verbunden mit der Fähigkeit, sich aber auch abzugrenzen. Schwierig wird es häufig, wenn sich Gespräch an Gespräch reiht, ohne jegliche Erholungsoase dazwischen. Niemand kann sofort umschalten, mit dem vorherigen Gespräch abschließen und sich auf die nächste Person einlassen. Was ich Jobcenter-Mitarbeitenden daher empfehlen würde: sich bewusst Abgrenzungsrituale im Arbeitsalltag schaffen. Das können ein, zwei Minuten für Atemübungen sein, oder auch ein kurzer Gang nach draußen. Ortswechsel tun unserer Psyche erwiesenermaßen gut. Auch achtsamkeitsbasierte Programme können sehr hilfreich sein und viel zur Förderung der Selbstfürsorge beitragen. Bereits nach etwa acht Wochen verändert sich nach zehn Minuten Achtsamkeit täglich die Gehirnstruktur – etwa in den Bereichen, die unsere Emotionen regulieren. Übrigens verfügen alle Menschen über die Veranlagung, Resilienz zu erlernen und zu trainieren. So lernt man auch, Themen an dem Ort zu lassen, wo sie hingehören und diese nicht über Gebühr mit nach Hause zu nehmen.

Haben Sie Praxistipps, wie man sich an mehr Achtsamkeit im (Arbeits-)Alltag erinnern kann – vor allem in stressigen Situationen?

Mögliche Beispiele wären, vor einem schwierigen Gespräch eine kurze aber effektive Zentrierungsübung in Form der Bauchatmung zu machen. Dies bietet sich speziell auch an, wenn ein Gespräch zu kippen oder zu eskalieren droht. In dem Fall können Sie auch einen intensiven Atemzug nehmen und sich dabei die Frage stellen: Will ich das jetzt eskalieren, oder gebe ich nach? Beide Optionen sind völlig in Ordnung, nur haben Sie Ihre Entscheidung bewusst getroffen und haben nicht impulsiv gehandelt! Das macht es häufig leichter. Wie gesagt, auch kleine Übergangsrituale können Entspannung und Gleichgewicht bringen, beispielsweise nach jedem Gespräch bewusst stehend ein Glas Wasser zu trinken oder sich auf den Atem zu konzentrieren oder mit einer kleinen Reflexionsübung in die Mittagspause zu starten. Auch nach Feierabend können etablierte Rituale das Abschalten erleichtern. Wer zur Arbeit pendelt, kann sich beispielsweise einen bestimmten Punkt auf dem Heimweg aussuchen, bis zu dem das Grübeln über den Arbeitstag erlaubt ist. Das kann ein Autobahnschild oder ein bestimmter Ausblick aus dem Zug sein. Dann heißt es „Schluss für heute“ und danach werden die Gedanken beiseitegeschoben und nicht mit in die Freizeit genommen.

Bleiben wir im Arbeitskontext und blicken nochmals in die Jobcenter: Die dortigen Mitarbeitenden betreuen die unterschiedlichsten Menschen mit ebenso unterschiedlichen Lebensrealitäten. Inwieweit helfen Achtsamkeit und Resilienz zum einen, um Distanz zu den Einzelsituationen zu halten, und zum anderen, bestmögliche Beratungsgespräche zu führen?

Jobcenter-Mitarbeitende haben einen psychosozial sehr fordernden Beruf: Häufig beraten sie Menschen, die sich in schwierigen Lebenssituationen befinden. Dafür ist natürlich ein hohes Maß an Empathie notwendig, doch wir Menschen können nicht unbegrenzt empathisch sein: Empathie ist eine nur sehr begrenzt vorhandene psycho-emotionale Ressource. Wer ständig zu allen empathisch ist, überfordert sich schnell selbst – womöglich bis hin zum Burnout. Um einem Missverständnis vorzubeugen: Dies bedeutet mitnichten, sich völlig unbeteiligt etwas anzuhören. Man kann nämlich lernen, Menschen zu helfen, ohne deren Gefühle zu spiegeln. Dies bedeutet, aus Mitgefühl und Nachempfinden professionelle Fürsorge entstehen zu lassen: Das kognitive, nicht emotionale, Nachempfinden einer persönlichen Situation kann helfen, sich von schwierigen Gesprächen abzugrenzen und der betroffenen Person neue Perspektiven zu eröffnen. Das hilft nicht nur einem selbst, sondern auch dem Menschen, der direkt vor Ihnen sitzt, aber auch dem, der danach kommt.

Homeoffice, Onlineservices, alternative Beratungsformate: In den vergangenen zwei Jahren hat sich die Arbeitsweise der Jobcenter umfassend verändert. Wie können Führungskräfte ihre Mitarbeitenden unterstützen, resilienter zu werden?

Führungskräfte sind auch Rollenvorbilder. Ich habe an einer der weltweit umfangreichsten Studien zum Thema „Achtsamkeit in der Arbeitswelt“ mitgewirkt. Dort hat sich gezeigt: In Organisationen, in denen Führungskräfte Achtsamkeit und Resilienz authentisch vorgelebt haben, waren die positiven Auswirkungen am deutlichsten zu sehen. Personalverantwortliche sollten also mit gutem Beispiel vorangehen und ihre Belegschaft ermutigen – vor allem diejenigen, die Veränderungen als Chance begreifen. Workshops und Kurse lediglich für die Mitarbeitenden anzubieten, ohne sich als Führungskraft damit auseinanderzusetzen, ist wenig zielführend. Achtsamkeit dient eben nicht dazu, ausschließlich widerstandsfähiger und belastbarer zu werden – sondern auch reflektierter sich selbst und dem Umfeld gegenüber: Wo liegen meine eigenen Grenzen, mit welchen äußeren Strukturen bin ich unzufrieden – und wie könnte ich etwas verändern? So gesehen haben Achtsamkeit und Resilienz nicht nur was mit dem Individuum, sondern auch mit der Organisation zu tun – hier übrigens deutlich mehr mit Organisations- denn mit reiner Personalentwicklung. Denn organisationale Achtsamkeit und Resilienz sind auch ein Gradmesser für den Reifegrad einer Organisation, weil sie den Zustand der kollektiven Bewusstseinskultur spiegeln.

Dieser Artikel stammt aus dem chancen-Magazin 2022 zum Thema Selbstreflexion. Auf dieser Seite finden Sie alle Artikel aus dem Magazin.