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Im Gespräch mit Dr. Peter Bartelheimer und Jutta
Henke

23. April 2018

„Vermittlungsarbeit braucht Zeit“

Porträtfotos von Dr. Bartelheimer und Jutta Henke.
Quelle: Hilla Südhaus, Klaus-Peter Wittemann

Servicestelle SGB II: Sehr geehrte Frau Henke, sehr geehrter Herr Dr. Bartelheimer, ganz grundsätzlich: Was können Jobcenter tun, damit Arbeitgeber und langzeitarbeitslose Bewerberinnen und Bewerber zusammenfinden?

Dr. Peter Bartelheimer: Entscheidend ist, dass die Jobcenter die Vermittlungsarbeit umfassend begreifen, also über das technische Matching hinaus. Das Matching, bei dem lediglich Stellen mit Bewerberinnen und Bewerbern in einer Datenbank abgeglichen werden, kann eine Maschine machen. Die Vermittlung von Langzeitarbeitslosen beginnt eigentlich erst dort, wo das Matching endet. Dazu gehören persönliche Beratung, Interventionen, Assistenz und Ähnliches.

Jutta Henke: Matching funktioniert immer nur dann gut, wenn Sie auf einen großen Pool an Stellen und Bewerbungen zurückgreifen können. Sobald aber Personen mit Vermittlungsschwierigkeiten ins Spiel kommen, werden Sie diese nicht über das Matching vermitteln. Deshalb braucht man einen individuellen Ansatz. Aufgabe der Jobcenter ist es, einerseits die Kundinnen und Kunden richtig zu betreuen und andererseits diejenigen Arbeitgeber ausfindig zu machen, die aufgeschlossen sind, auch Bewerberinnen oder Bewerber einzustellen, die ihren Anforderungen vielleicht nicht in jeder Hinsicht entsprechen.

Servicestelle SGB II: Wie sollte eine solche individuelle Vermittlungsarbeit aussehen?

Jutta Henke: Unsere Forschung zeigt, dass die Vermittlung dann erfolgreich ist, wenn sie praktisch ist und auf konkretes Handeln setzt. Vor allem aber braucht gute Vermittlung Zeit. Denn die Erwerbsprobleme von Langzeitarbeitslosen sind oft komplex: Mal geht es um die Frage, wie viel Arbeitszeit eine Alleinerziehende anbieten kann, ohne dass die Kinder darunter leiden. Für einen anderen Arbeitslosen gibt es keine Stellen im erlernten Beruf und für den Wunschberuf fehlt die Qualifikation. Bei einem Dritten macht eine Krankheit alle beruflichen Pläne zunichte. Deshalb muss am Anfang eine qualifizierte Orientierungsberatung für die Betroffenen stehen: Wie kann der berufliche Weg aussehen? Welche Abschlüsse braucht es? Wie wird die Kinderbetreuung geregelt? Das alles muss geklärt werden, bevor es an die Vermittlung gehen kann. Dass das nur mit einem entsprechend niedrigen Betreuungsschlüssel gelingen kann, ist klar.

Servicestelle SGB II: Der Ansatz klingt logisch. Wie weit sind die Jobcenter Ihrer Erfahrung nach bei der Umsetzung?

Dr. Peter Bartelheimer: Viele Jobcenter sehen Orientierungsberatung immer noch nicht als ihre Aufgabe. Oft gibt es die Vorgabe, möglichst schnell den Zielberuf mit der größten Vermittlungswahrscheinlichkeit ausfindig zu machen, im Grunde schon nach dem Erstgespräch. Viele Probleme der Arbeitsuchenden sind da aber noch gar nicht bekannt, geschweige denn behoben. So kann die Vermittlung nicht nachhaltig sein. Den Mitarbeitenden fehlt häufig die Freiheit, sich die nötige Zeit zu nehmen, wenn es mal länger dauert, etwa bei älteren Langzeitarbeitslosen oder Suchtkranken.

Servicestelle SGB II: Neben den strukturellen Gegebenheiten: Was müssen die Mitarbeitenden mitbringen?

Jutta Henke: Entscheidend ist eine ausgeprägte Beratungskompetenz. Dazu gehört ein gewisses Maß an Offenheit ohne vorschnelle Zielvorgaben – gerade wenn der Arbeitsmarkt nicht so leicht erreichbar ist. Für die meisten Arbeitslosen bleibt das Ziel ja die Arbeitsmarktintegration. Und die Kundinnen und Kunden erwarten zu Recht, dass sich die Mitarbeitenden mit dem Arbeitsmarkt auskennen und es in die entsprechende Richtung vorangeht. Eine Herausforderung ist dabei immer wieder, die persönlichen Stellenvorstellungen der Langzeitarbeitslosen zu unterstützen und zugleich die Realität des Arbeitsmarktes im Auge zu behalten.

Dr. Peter Bartelheimer: Unerlässlich ist auch eine akzeptierende Grundhaltung gegenüber den Kundinnen und Kunden. Arbeitslosigkeit, vor allem aber Langzeitarbeitslosigkeit, ist gesellschaftlich stark negativ konnotiert. Häufig wird die Schuld bei den Betroffenen gesucht. Arbeitsmarktintegration wird aber nicht gelingen, wenn man Verhalten sanktioniert, ohne einen Blick auf die Lebensumstände und Problemlagen der Menschen zu werfen.

Servicestelle SGB II: Leisten die Mitarbeitenden im Jobcenter also Sozialarbeit?

Jutta Henke: Die Fachkräfte sind Spezialistinnen und Spezialisten für die Vermittlung. Bei der Vermittlung von Langzeitarbeitslosen kommt man nicht umhin, zuerst die vorhandenen Hindernisse zu bearbeiten. Deshalb ist es gut, wenn die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sozialarbeiterische Kompetenzen mitbringen und im Zweifelsfall auch mal zupacken können. Das heißt zum Beispiel, zum Hörer zu greifen und bei Arbeitgebern wegen Stellen anzurufen, gemeinsam mit den Kundinnen und Kunden Bewerbungen zu verfassen, sie zur Schuldner- oder Suchtberatung zu begleiten und nachzufassen, wenn es hakt.

Servicestelle SGB II: Gibt es weitere Anforderungen an die Mitarbeitenden abseits der sozialen Kompetenzen?

Jutta Henke: Branchenwissen und eine gute Kenntnis der Betriebe zahlen sich immer aus. Jobcentermitarbeiterinnen und -mitarbeiter, die einen engen Kontakt zu Unternehmen pflegen, diese auch mal über Betriebsbegehungen kennenlernen, können belastbare Beziehungen aufbauen, die bei der Vermittlung nutzbar sind. Denn schwierige Kundinnen und Kunden über „Kaltakquise“ in Arbeit zu bringen, wird nicht funktionieren.

Dr. Peter Bartelheimer: Gute Kenntnisse und Beziehungen sind für beide Seiten wichtig. Bewerberinnen und Bewerber wollen keine Stellenangebote vom Jobcenter bekommen, die gar nicht ihrem Profil und ihren Hemmnissen entsprechen. Und Unternehmen wollen nicht das Gefühl haben, dass Bewerbungen nur der Erfüllung von Quoten dienen.

Servicestelle SGB II: Der von Ihnen beschriebene Betreuungsansatz klingt ein bisschen wie ein Rundumservice. Nimmt man den Betroffenen damit nicht die Eigenverantwortung?

Dr. Peter Bartelheimer: Nein, es geht weniger um eine Rundumbetreuung als um eine Dienstleistung, mit der Arbeitsmarktziele im Einzelfall möglichst schnell erreicht werden können. Die Jobcentermitarbeiterinnen und -mitarbeiter sollen, wo es gewünscht ist, Türen öffnen beim Arbeitgeber, gerade für Menschen, die lange vom Arbeitsmarkt weg waren. Das assistierte Bewerbungsgespräch, also ein Vorstellungsgespräch, bei dem die oder der Jobcentermitarbeitende mit dabei sitzt, das ist doch eher die Ausnahme.

Jutta Henke: Hier herrscht tatsächlich ein gespaltenes Bild. Viele Kundinnen und Kunden wollen, dass ihnen jemand die Tür aufstößt. Andere wollen auf keinen Fall jemanden, der „Händchen hält“. Die assistierte Vermittlung, bei der das Jobcenter auch mal beim Arbeitgeber anruft und für eine Bewerberin oder einen Bewerber wirbt, ist aber auf jeden Fall wirkungsvoll. Auch vorher gemeinsam durchzusprechen, wie man sich in einem Bewerbungsgespräch mit seinen Hemmnissen am besten positioniert, hat sich bewährt.

Servicestelle SGB II: Sollten die persönlichen Einschränkungen gegenüber dem Arbeitgeber offengelegt werden?

Jutta Henke: Grundsätzlich entscheiden die Kundinnen und Kunden allein, wie offen sie sein wollen. Der Arbeitgeber hat nicht das Recht, alles zu erfahren. Bestehen bei einer Bewerberin oder einem Bewerber noch fachliche Mängel, sollte man diese unbedingt benennen. Im besten Fall gibt es einen gemeinsam besprochenen Plan zwischen der bzw. dem Mitarbeitenden des Jobcenters und der bzw. dem Langzeitarbeitslosen. Wenn zum Beispiel jemand, der verschuldet ist, nach der Arbeitsaufnahme Pfändungen erwartet, kann es sinnvoll sein, das vorher mit dem Arbeitgeber zu klären. Letztlich bleibt es aber eine Frage des Fingerspitzengefühls, eine pauschale Antwort gibt es nicht.

Servicestelle SGB II: Inwiefern sehen Sie die Unternehmen in der Pflicht, mehr Langzeitarbeitslose zu beschäftigen?

Dr. Peter Bartelheimer: Sie tragen einen Teil der Verantwortung. Arbeitslosigkeit wird am Arbeitsmarkt beendet. Es nutzt der geeignetste und motivierteste Bewerber nichts, wenn Arbeitgeber sich mit bestimmten Zielgruppen nicht befassen wollen. Immer wieder erleben wir beispielsweise die Ablehnung von Alleinerziehenden nach dem Motto „Wenn ihr Kind krank ist, kommt sie nicht zur Arbeit“. Das verwundert doch oft, gerade vor dem Hintergrund der Klage über Engpässe bei der Stellenbesetzung. Es ist deshalb an der Zeit, dass Arbeitgeber beginnen, ihr Blickfeld zu erweitern und vielleicht auch ein paar Abstriche zu machen.

Servicestelle SGB II: Wie kann das Jobcenter dazu beitragen?

Jutta Henke: Es kann Nachqualifizierungen bezahlen und Arbeitgebern finanzielle Unterstützung anbieten, wenn diese bereit sind, schwierigeren Fällen eine Chance zu geben. Das überzeugt so manches Unternehmen, sich auf einen Deal einzulassen und auch mal ins Risiko zu gehen.

Dr. Peter Bartelheimer: Sobald das Jobcenter einmal bewiesen hat, dass eine Vermittlung wirklich durchdacht war und geklappt hat, spricht sich das schnell herum. Seit es spezialisierte Arbeitgeberbetreuer gibt, sind die meisten Unternehmen mit der Dienstleistung der Jobcenter zufrieden. Wenn allerdings Bewerberinnen oder Bewerber geschickt werden, die gar nicht passen, machen die Unternehmen eine negative Dienstleistungserfahrung. Das kann ein echtes Hindernis für die zukünftige Jobvermittlung bedeuten. Es ist gut, dass in den Jobcentern auch damit experimentiert wird, Aufgaben der stellen- und bewerberorientierten Vermittlungsarbeit wieder etwas stärker zusammenzuführen.

Servicestelle SGB II: Gesetzt den Fall die Vermittlung gelingt: Braucht es eine Nachbetreuung von Jobcenterseite?

Jutta Henke: Es anzubieten, ist durchaus sinnvoll. Viele Probleme treten ja erst unter Realbedingungen auf. Gerade bei Kundinnen und Kunden, bei denen absehbar ist, dass es zu Schwierigkeiten kommen kann, sollten die Mitarbeitenden dem Unternehmen signalisieren, dass das Jobcenter nicht aus der Welt ist. Das ist auch eine zusätzliche Absicherung für den Arbeitgeber, auf möglichen Problemen nicht allein sitzenzubleiben.

Dr. Peter Bartelheimer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des Soziologischen Forschungsinstituts (SOFI) an der Georg-August-Universität in Göttingen. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Arbeitsmarktdienstleistungen, Sozialberichterstattung und Teilhabe.

Jutta Henke arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin für die Gesellschaft für innovative Sozialforschung und Sozialplanung (GISS) in Bremen. Dort beschäftigt sie sich unter anderem mit der Evaluation von personenbezogenen sozialen Dienstleistungen nach SGB II, III und XII.