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Im Gespräch mit
Prof. Dr. Claus Reis

13. März 2018

„Der Erfolg steht und fällt mit der Geschäftsführung“

Claus Reis hat graue Haare und steht neben einem Schild mit dem Logo der Netzwerke ABC.
Prof. Dr. Claus Reis von der Frankfurt University of Applied Sciences erläutert, warum gerade die Netzwerke ABC für den Erfolg der Jobcenter so wichtig sind. Quelle: Jörg Carstensen Fotografie

Servicestelle SGB II: Herr Professor Reis, Netzwerke sind derzeit in aller Munde. Haben wir es mit einer Modeerscheinung zu tun?

Claus Reis: Wir erleben tatsächlich seit einigen Jahren, dass Netzwerke wichtiger werden, vor allem in der öffentlichen Wahrnehmung. An vielen Stellen haben wir es nämlich mit immer komplexer werdenden Lebenslagen zu tun und als Antwort darauf mit immer komplexer werdenden Leistungsangeboten, wenn wir beispielsweise auf die sozialen Dienstleistungen blicken. Um dem gerecht zu werden, führt oft kein Weg mehr an Netzwerken vorbei.

Servicestelle SGB II: Netzwerk ist aber nicht gleich Netzwerk, oder?

Claus Reis: Viele reden über Netzwerke, aber die wenigsten wissen, was darunter zu verstehen ist. Netzwerke sind nach meinem Verständnis nicht nur Telefonbücher von Personen, die ich kenne und mit denen ich bei Bedarf zusammenarbeiten kann. Vielmehr sind es Netzwerke mit einer gemeinsamen Vision, die strukturell zusammenarbeiten. Wie genau das funktionieren kann, daran forsche ich. Während Unternehmensnetzwerke schon seit den 1990er Jahren intensiv untersucht werden, sind Netzwerke im öffentlichen Sektor erst in den letzten Jahren richtig in den Blick gerückt.

Servicestelle SGB II: Welche Arten von Netzwerken gibt es?

Claus Reis: Da haben wir zum einen die Netzwerke zum reinen Informationsaustausch. Solche „Adressen-Netzwerke“ geben Auskunft darüber, welche Institutionen existieren, welche Leistungen sie anbieten und welche Neuigkeiten es gibt. Hier werden weder gemeinsame Entscheidungen getroffen, noch wird in die Prozesse der teilnehmenden Organisationen eingegriffen. Des Weiteren sind da die projektbezogenen Netzwerke, bei denen sich mehrere Organisationen zeitlich begrenzt für ein konkretes Projekt zusammentun. Die Partner stellen in der Regel Zeit und Ressourcen für das Projekt zur Verfügung, sodass leichte Eingriffe in ihre Organisationsprozesse dazugehören. Am umfassendsten sind jedoch die sogenannten Produktionsnetzwerke, also Netzwerke von Organisationen, die über einen längeren Zeitraum hinweg gemeinsam Dienstleistungen erbringen und sich dabei über Professionsgrenzen hinweg intensiv abstimmen. Genau hier sind die Netzwerke ABC zu verorten.

Servicestelle SGB II: Mit den Netzwerken ABC möchten die Jobcenter die Betreuung und Vermittlung von Langzeitarbeitslosen verbessern. Warum ist das der richtige Ansatz?

Claus Reis: Die meisten Langzeitarbeitslosen haben mit einer Reihe von Problemen abseits der reinen Arbeitslosigkeit zu kämpfen – Schulden, Suchterkrankungen, schwierige Familienverhältnisse oder Ähnliches. Die Jobcentermitarbeitenden, die in der Arbeitsvermittlung oder im Fallmanagement arbeiten, sind aber keine „eierlegende Wollmilchsau“, die alle Probleme der Kundin oder des Kunden regeln kann. Wenn ich also Mitarbeitende in Suchtfragen schule, dann kann es nicht darum gehen, dass sie die Suchtprobleme ihrer Kundinnen und Kunden lösen, sondern darum, sie zu sensibilisieren. Sie sollen Problemlagen richtig erkennen und die geeignete Organisation als Unterstützung dazuholen. Denn für verschiedene Probleme gibt es verschiedene Experten. Genau das ist die Idee der Netzwerke ABC. Welche Leistungen braucht die Kundin oder der Kunde? Welche kann das Jobcenter selbst erbringen? Und wo braucht es externe Partner? Aus dieser Brille betrachtet sind die Netzwerke ABC als Produktionsnetzwerke absolut notwendig, damit die Jobcenter ihren gesetzlichen Auftrag erfüllen können. Denn die Aufgabe, langzeitarbeitslose Menschen besser zu betreuen, ist nach meiner Auffassung nur mit einem Netzwerk solcher Intensität und Verbindlichkeit zu stemmen.

Servicestelle SGB II: Ist das auch eine Aufforderung an die Geschäftsführungen der Jobcenter?

Claus Reis: Das kann man so sagen. Der gesetzliche Auftrag des SGB II beschränkt sich meines Erachtens nicht allein darauf, Personen in Arbeit zu vermitteln, sondern ist breiter zu verstehen. Das Ziel der Arbeitsmarktintegration kann nur gelingen, wenn die Betroffenen mit ihren Problemen und Herausforderungen ganzheitlich in den Blick genommen werden. Hier liegt die Chance der Netzwerke ABC, vor allem aber der Jobcenter. Denn sie gehören zu den wichtigsten Akteuren vor Ort. Sie sind hochpotente Organisationen hinsichtlich ihrer Ressourcen und Bedeutung. Das sind gute Startvoraussetzungen.

Servicestelle SGB II: Was zeichnet ein gutes, erfolgreiches Netzwerk aus?

Claus Reis: Es gibt aus meiner Sicht fünf wesentliche Faktoren, die wichtig sind für den Erfolg. Es beginnt mit der Vollständigkeit. Das heißt, im Netzwerk müssen alle Organisationen vertreten sein, die für die Leistungserbringung gebraucht werden. Fehlt ein wichtiger Partner, kann es zu Störungen im Leistungsprozess kommen. Zweitens braucht es ein professionelles Netzwerkmanagement, also eine oder mehrere Personen, die in der Lage ist bzw. sind, das Netzwerk zu steuern – zum Beispiel eine Geschäftsführung. Der dritte Aspekt betrifft die Ausbalancierung von Verbindlichkeit und Autonomie der teilnehmenden Organisationen. Denn eine der zentralen Eigenschaften von Unternehmen und Organisationen ist es, ihre Autonomie wahren zu wollen. Hier ist Konfliktpotenzial vorprogrammiert. Die Kunst besteht deshalb darin zu vermeiden, dass Teilnehmende ausscheren oder aussteigen wollen. Hier spielt wiederum das professionelle Netzwerkmanagement, zum Beispiel durch eine Geschäftsführung, die sich für das Netzwerk verantwortlich erklärt, eine zentrale Rolle. Viertens: Alle Partner brauchen das Gefühl von Reziprozität. Die Arbeit im Netzwerk muss als Geben und Nehmen empfunden werden. Zu guter Letzt braucht es natürlich Vertrauen zwischen den Akteuren. Das ist ganz wichtig, da im Netzwerk niemand weisungsgebunden ist und es auch nur eine begrenzte finanzielle Steuerung gibt.

Servicestelle SGB II: Werfen wir einen genaueren Blick auf die Netzwerkarbeit. Alles beginnt mit den richtigen Partnern. Wie findet man diese und wie holt man sie an Bord?

Claus Reis: Am Anfang sollten die Jobcenter ihre Fälle analysieren. Damit lässt sich herausfinden, wie die Problemlagen ihrer Kundinnen und Kunden sind, welche Leistungen dafür gebraucht werden und welche Partner-Organisationen hierfür in Frage kommen. Hat man die potenziellen Partner benannt, kann man die Initiative ergreifen und auf sie zugehen. Viele Jobcenter arbeiten schon seit Jahren mit Beratungsstellen oder freien Trägern zusammen. Mit ihnen kann man ein Kernnetzwerk gründen und dann gemeinsam überlegen, ob weitere Partner hinzukommen sollen. So lassen sich Netzwerke langsam erweitern.

Servicestelle SGB II: Wie aber überzeugt man Partner mitzumachen? Wie schafft man Vertrauen?

Claus Reis: Der beste Weg ist, die gemeinsamen Ziele in den Blick zu nehmen und dabei offen zu kommunizieren und deutlich zu machen, was man selbst bereit ist hineinzugeben, damit diese Ziele erreicht werden. Man sollte seine Wunschpartner zudem davon überzeugen, was sie im Netzwerk gewinnen können, wie etwa zusätzliches Wissen und eine Effizienzsteigerung in den eigenen Prozessen. Letztlich kann sich Vertrauen aber nur schrittweise durch gemeinsames Handeln entwickeln.

Servicestelle SGB II: Nachdem die Partner feststehen: Wie bringt man das Netzwerk in Gang?

Claus Reis: Sinnvoll kann eine Auftaktveranstaltung sein, beispielsweise in Form eines Eröffnungs-Workshops. Als äußerst fruchtbar hat sich dabei erwiesen, gemeinsam einen Fall durchzuarbeiten. So können die Teilnehmenden konkret erfahren, wie die anderen arbeiten und welche Aufgaben sie haben. Darauf aufbauend sollten sich die Netzwerkpartner eine Mittel- und Langfristplanung geben. Das heißt, sie sollten sich über Ziele und Teilziele verständigen, die Ressourcen klären, aber auch schon Erfolgskriterien definieren, die man später überprüfen kann. Wichtig ist außerdem, dass die Teilnehmenden regelmäßig, zum Beispiel jährlich oder halbjährlich, gemeinsam reflektieren, wie die Zusammenarbeit funktioniert. So verhindert man, dass Netzwerke einschlafen. Und man kann da Korrekturen vornehmen, wo es hakt.

Servicestelle SGB II: In der konkreten Arbeit müssen Entscheidungen getroffen werden. Sie sagten, dass sich Netzwerke nicht über Weisung oder Hierarchie steuern lassen, sondern lediglich durch Aushandeln, Überzeugen und Vertrauen. Wie kommt man hier zu Ergebnissen?

Claus Reis: Die Partner müssen sich auf ein Prozedere einigen, wie man zu Entscheidungen kommt, sei es durch eine Satzung oder eine Kooperationsvereinbarung. Dabei ist Verbindlichkeit das A und O. Denn entscheiden kann man immer viel, es muss aber für alle gelten. Hilfreich ist es, sich zuerst über den Modus der gemeinsamen Arbeit zu verständigen – wer macht was wofür mit wem? – und auf dieser Basis eine schriftliche Vereinbarung zu treffen. Außerdem braucht es konkrete Entscheidungskompetenzen im Netzwerk und kurze Kommunikationswege mit den Organisationsleitungen. Sonst kommt es vor allem bei wichtigen Fragen zum Stillstand.

Servicestelle SGB II: Welche Rolle kommt den Geschäftsführungen der Jobcenter dabei zu?

Claus Reis: Der Erfolg der Netzwerke ABC steht und fällt mit der Unterstützung der Führungsebene. Entscheidend ist, dass die Geschäftsführerinnen und Geschäftsführer das Netzwerk ernst nehmen. Dazu gehört, dass sie immer informiert sind, was im Netzwerk passiert, und dass sie bereit sind, Entscheidungen zu delegieren oder zügig selbst zu treffen. Zudem müssen sie ausreichend Ressourcen hineingeben, zumindest in Form der Arbeitszeit von Mitarbeitenden. Denn ein Netzwerk dieser Art gibt es nicht zum Nulltarif.

Servicestelle SGB II: Das klingt nach Eingriffen in die eigene Organisation. Müssen sich die Geschäftsführungen auf Veränderungen gefasst machen?

Claus Reis: Jedes Produktionsnetzwerk hat Rückwirkungen auf die beteiligten Organisationen und Geschäftsprozesse. Das sollten die Geschäftsführungen wissen und Veränderungen nicht nur geschehen lassen, sondern mitgestalten. Waren zum Beispiel Mitarbeitende in der Arbeitsvermittlung oder im Fallmanagement bislang nur für eine bestimmte Person zuständig, kann sich im Laufe der Netzwerkarbeit ergeben, dass es sinnvoller ist, die ganze Bedarfsgemeinschaft zu betreuen. So etwas hat natürlich Auswirkungen auf die Mitarbeitenden. Deshalb ist es wichtig, diese kontinuierlich über das Netzwerk zu informieren. Es ist Aufgabe der Geschäftsführungen, für die richtigen Kommunikationskanäle zu sorgen, etwa regelmäßige Dienstbesprechungen. Außerdem sollten diejenigen, die verantwortliche Aufgaben im Netzwerk übernehmen, Weiterbildungen im Netzwerkmanagement erhalten, sonst ist die Gefahr des Scheiterns groß.

Servicestelle SGB II: Blicken wir nicht aufs Scheitern, sondern aufs Gelingen. Wie kann ich messen, ob mein Netzwerk erfolgreich ist?

Claus Reis: Das muss jedes Netzwerk für sich selbst beantworten. Aus Jobcenter-Sicht könnte das Ziel natürlich lauten, Langzeitarbeitslose in Arbeit zu bringen, das wäre auch messbar. Hier sollten die Jobcenter nach Kriterien suchen, die – über die Fallzahlen hinaus – den mittel- und langfristigen Nutzen durch nachhaltigere Integrations- und Aktivierungszahlen belegen. In einem Netzwerk zählt aber nicht nur die Zielerreichung eines einzelnen Partners. Und nicht alle Ziele sind immer mit Kennzahlen erfassbar. Erfolgreich kann man auch sein, wenn sich beispielsweise die Qualität der Zusammenarbeit verbessert oder sich die Breite des Angebots erweitert, sodass mehr Bedarfslagen abgedeckt werden können. In jedem Fall ist es sinnvoll, wenn sich die Partner schon zu Beginn Gedanken darüber machen, welche gemeinsamen Zielvorstellungen sie haben und wie sie diese überprüfen wollen.

Servicestelle SGB II: In der Gesamtschau: Sehen Sie die Netzwerke ABC auf einem guten Weg? Wo sollte nachgearbeitet werden?

Claus Reis: Die Tendenz stimmt. Dort, wo die Geschäftsführungen vollständig hinter den Netzwerken stehen, läuft es besonders gut. Bei den anderen braucht es noch mehr Rückenwind aus der Führungsebene. Ich bin aber fest davon überzeugt, dass sich die Anstrengungen lohnen. Denn die Netzwerke ABC sind nicht nur notwendig, damit die Jobcenter ihren gesetzlichen Auftrag erfüllen, sie sind auch ein Gewinn für die Jobcenter selbst – durch die enorme Erweiterung an Wissen und Erfahrung. Netzwerkarbeit ist eine Kompetenz, die zukünftig auch für weitere Aufgaben der Jobcenter von zentraler Bedeutung sein wird.

Servicestelle SGB II: Wir danken Ihnen für das Gespräch.