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Besser beraten

1. September 2018

Vom Ortswechsel bis zum Gender-Blick: Gute Betreuung durch das Jobcenter läuft selten nach Schema F ab. Fünf Beispiele geben Einblick in die Jobcenter-Praxis.

Grafik einer roten Brille und einer blauen Brille.
Quelle: Ann Precious/Shutterstock.com

Jobcenter Wesermarsch: Durch die Vermittlerbrille

So war dieser Beratungstermin im Jobcenter Wesermarsch nicht geplant: Als Mitarbeiter Riky Ehrke seinen Kunden ins Büro bittet, kommt dieser herein und nimmt wie selbstverständlich Platz. Und zwar direkt an Ehrkes Arbeitsplatz. Was tun? Den Kunden auf das Missverständnis hinweisen und ihn auffordern, den Platz zu wechseln? Riky Ehrke entscheidet sich, die Situation spontan aufzunehmen, und startet das Gespräch vom „Kunden-Platz“ aus in vertauschten Rollen. Das läuft überraschend positiv. Nach der Begrüßung wartet Ehrke – ganz in seiner Rolle – schweigend ab, was nun kommt. Der Kunde bemerkt die Verwechslung und will die Seite tauschen. Doch Ehrke ermutigt ihn, sitzen zu bleiben und bei dem Rollentausch mitzuspielen. Nach kurzem Zögern lässt sich der Kunde darauf ein und versucht nun, Ehrke Tipps zu geben. Inspiriert von der ungewohnten Sicht auf sich selbst, entwickelt der Kunde im Gesprächsverlauf gleich mehrere neue Lösungsansätze, um wieder in Arbeit zu kommen. Zudem wird ihm bewusst, dass es letztlich nur er selbst ist, der etwas an seiner Situation verändern kann. Die beiden vereinbaren und fixieren eine der Ideen schriftlich. Der Kunde ist auch in der Folgezeit wieder deutlich motivierter, nimmt das Zepter vermehrt selbst in die Hand. Den im Zufall entwickelten Beratungsansatz entwickelte Ehrke später weiter. Fruchtbar erweist sich die Methode vor allem bei Kunden, die sich selbst reflektieren können, eine Portion Humor mitbringen und mit denen er bereits ein vertrautes offenes und ehrliches Verhältnis hat.

Pinke Schrift: "Kann ich!"
Quelle: knallgrün/photocase.de || Marie Maerz/shutterstock.com

Jobcenter Hameln-Pyrmont: Stärken aufspüren per Computer

Welche Interessen, Einstellungen und Talente machen mich eigentlich aus? Was motiviert mich? Und wie nutze ich all das am sinnvollsten? Mit der computerbasierten ABC*-Methode können die Kundinnen und Kunden des Jobcenters Hameln-Pyrmont das herausfinden oder auch wiederentdecken. „Es verließen bereits einige Kundinnen und Kunden das Jobcenter freudestrahlend, als sie ihre Kompetenzen schwarz auf weiß bestätigt fanden“, erläutert Teamleiterin Dagmar Priesett. Für die Fallmanagerinnen und Fallmanager ist das Tool ebenso hilfreich. Sie erhalten damit einen Eindruck von den Einstellungen, dem emotionalen Zustand und den sogenannten Soft Skills der Person, die vor ihnen sitzt. Das macht es leichter, schnell eine respektvolle und persönliche Beziehung aufzubauen und damit eine sehr wichtige Voraussetzung für ein erfolgreiches Beratungsgespräch zu schaffen. Zusätzlich zeigt die Methode im Berufe-Matching Tätigkeiten, die zur Kundin oder zum Kunden passen könnten, und liefert Hinweise darauf, wie es der Person geht und wie motiviert sie insgesamt ist. Auf diese Erkenntnisse kann man im Gespräch dann individuell aufbauen. Das Stärkenprofil zum Mit-nach-Hause-Nehmen gibt es übrigens nicht nur auf Deutsch – die Software kann auch Englisch, Französisch, Spanisch, Türkisch, Russisch und Niederländisch.

*ABC steht bei diesem Tool – anders als bei den Netzwerken ABC – für Attitudes, Balance und Competences.

Familie Simpson als Plastikfiguren.
Quelle: Semen Trofimov/shutterstock.com

Jobcenter Nienburg: Familie im Fokus

Damit sich Langzeitarbeitslosigkeit nicht von einer Generation auf die nächste übertr.gt, gibt es im Jobcenter Kulmbach seit März 2018 das Projekt „Balance“. Ähnlich wie beim Projekt „Familie im Focus“ im Jobcenter Nienburg rückt die Bedarfsgemeinschaft (BG) als Ganzes in den Fokus. Die Fallmanagerin oder der Fallmanager spricht mit der ganzen Familie – und zwar mit Blick auf jede einzelne Person und auch auf deren Beziehungen untereinander. Häufig verstellen Konflikte einzelner Mitglieder oder verfestigte Verhaltensmuster den Weg in eine Arbeitsaufnahme. Das BG-Coaching betrachtet daher die gesamte Situation: Übernimmt beispielsweise einer der Partner den größten Teil des Haushalts und der Kinderbetreuung und ist damit überfordert? „Dieser Stress geht dann auch an den anderen Familienmitgliedern meist nicht vorbei und es ist an uns, Lösungswege zu eröffnen“, erklärt Vermittlerin Heike Stäudel. Zum Beispiel, indem sie an Netzwerkpartner, wie soziale und medizinische Beratungsstellen, vermittelt. So kommt die Familie wieder in Balance und eine Arbeitsaufnahme zumindest eines Mitglieds wird wahrscheinlicher.

Eine Katze sitzt auf einem Tisch neben einem Strauß Rosen.
Quelle: AnastasiaNess/shutterstock.com

Jobcenter Ostalbkreis: Sofa statt Schreibtisch

„Wie wäre es, wenn wir uns mal woanders treffen?“, erkundigten sich die Vermittlerinnen und Vermittler des Jobcenters Ostalbkreis einen Monat lang bei ihren Kundinnen und Kunden. Viele begrüßten das und luden in ihr Wohnzimmer, zu einem Spaziergang oder in ein Café ein. Die zahlreichen Ortswechsel innerhalb des „kreativen Monats“ führten zu neuen Einsichten auf allen Seiten. Einige Kundinnen und Kunden erwarteten ihren Besuch mit Frühstück und Kaffee, in einem Fall machte es sich die Katze mit auf der Couch bequem. „Für mich persönlich war es sehr eindrucksvoll, dass die Menschen sich durch den Besuch bei ihnen zu Hause unheimlich wertgeschätzt fühlten“, berichtet Mitarbeiterin Ursula König. „So ein Gespräch außerhalb des Büros verläuft schneller auf Augenhöhe, macht es dem anderen Menschen leichter, sich zu öffnen, und der Beratende erkennt schneller, was gebraucht wird“, resümiert König. Ein Kunde fasste durch den persönlicheren Termin so viel Vertrauen zu seiner Vermittlerin, dass er sich traute, den Wunsch zu äußern, dass sie ihn zu einem Zahnarzttermin begleiten möge. Allein hätte er sich das aufgrund einer Phobie nie zugetraut – die Kollegin ließ sich daher nicht zweimal bitten. König ist seither überzeugt, dass es wichtig ist, das Jobcenter ab und an auch mal zu verlassen, wenn man wirklich erfolgreich beraten will.

Grafik von einer Frau in Blaumann und Werkzeugen neben einem Mann, der ein Kind hält.
Quelle: Helga Khorimarko/shutterstock.com

Jobcenter Marburg-Biedenkopf: Sind Sie der Haushaltsvorstand

Jobcenterkunde Achim Huber* staunt nicht schlecht, als sich der Fallmanager an seine Frau wendet und fragt: „Sind Sie der Haushaltsvorstand?“ Während deutsche Spielzeughersteller noch immer rosarot beschürzte Püppchen für die Zielgruppe Mädchen anbieten, laufen die Beratungsgespräche für Arbeit suchende Mütter und Väter im Jobcenter Marburg-Biedenkopf zunehmend genderneutral ab. „Wir achten beispielsweise darauf, dass in Familien nicht nur der Mann zur Beratung eingeladen wird, sondern auch die Frau, und dass dann die Gesprächsanteile ungefähr gleich verteilt sind“, erläutert Fachbereichsleiterin Andrea Martin den Ansatz. Ebenfalls innovativ: Die Mitarbeitenden können im Computersystem auf einen Blick sehen, ob eine Maßnahme mit Kinderbetreuung vereinbar ist oder nicht. Anschließend teilen sie nicht nur Adressen aus, sondern bieten einen Betreuungsplatz an. Egal, ob der Vater oder die Mutter danach fragt.
*Name von der Redaktion geändert