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Familie Male hat einen Traum

1. September 2018

Vor vier Jahren kam das Ehepaar Male mit seinen drei Kindern von Italien nach Nienburg. Keiner von ihnen sprach Deutsch, die Eltern hatten keine Ausbildung. Wie sollten sie da Arbeit finden? Mithilfe ihres Jobcenter-Betreuers schafften sie es, ihr eigenes Geld zu verdienen.

Flogert Male hat schwarze Haare, ein rundes Gesicht und trägt eine Brille, er sitzt am Tisch und spricht.
Auf Hausbesuch: Fallmanager Oliver Perkuhn (r.) spricht mit seinem Kunden Flogert Male darüber, wie die ersten Tage auf der neuen Arbeit verlaufen sind. Quelle: Werner Krüger

Es muss etwas Schönes sein, das Flogert Male da vor seinem inneren Auge sieht. Er hat ein Strahlen in den Augen, als er mit seinen Händen eine Linie durch die Luft zieht, als forme er einen Rahmen um etwas. „Das ist dann so wie ein Mosaik“, erklärt er dabei. Der 35-Jährige sitzt an seinem mit Keksen und Kuchen gedeckten Esstisch und spricht von dem, womit er schon immer sein Geld verdienen wollte: vom Fliesenlegen. Jahrelang stand er als Koch in Italien in der Küche, jobbte in Nienburg als Hausmeistergehilfe und verdiente als Helfer in der Salatproduktion Geld. Zu wenig Geld.

Das Ehepaar Male wird mit seinen drei Kindern vom Jobcenter im Landkreis Nienburg betreut. Nienburg, eine Kreisstadt mit rund 30.000 Einwohnerinnen und Einwohnern an der Weser, liegt zwischen den Großstädten Hannover und Bremen. Seit Juli vergangenen Jahres steht im Projekt ABC die Familie im Mittelpunkt. Mit „Familie im Focus“ (FiF) erhofft sich das Jobcenter, gewohnte Lebensstrukturen der Teilnehmenden zu verändern – durch Besuche in den eigenen vier Wänden und eine ganzheitliche Betreuung aller Familienmitglieder.

„Es geht nicht nur um die direkte Jobsuche. Die Aufgabe fängt viel weiter davor an.“

Denn eins ist sicher: Eine intensive Betreuung und regelmäßige Hausbesuche können viel bewirken. „Bei Familien geht es oft nicht nur um die direkte Jobsuche. Die Aufgabe fängt schon viel weiter davor an“, sagt Daniela Meyer, die stellvertretende Geschäftsführerin und Mitverantwortliche für das Konzept in Nienburg. Wenn in Familien eine Langzeitarbeitslosigkeit drohe oder schon eingetreten sei, könne dies an Gründen liegen, die nicht auf den ersten Blick offensichtlich sind. „Durch die aufsuchende Beratung in vertrauter Umgebung werden die Problemlagen oft viel deutlicher“, sagt Meyer.

Eine Hand ruht auf einem Schreibblock und hält einen Stift.
Quelle: Werner Krüger

Im September 2017 klingelt bei Oliver Perkuhn das Telefon. Er ist einer von drei Fallmanagern im Nienburger FiF-Projekt. Flogert Male ist am Apparat. Er braucht Hilfe und Perkuhn bietet an, vorbeizukommen. „Wenn Male um Hilfe bittet“, sagt Perkuhn, „dann wünscht er sie sich meistens schnell.“ Wenn der Fallmanager es einrichten kann, kommt er dem Wunsch nach. So sitzt Perkuhn wenige Tage später in Males Haus und beugt sich über einen Stapel an Formularen: Anträge für einen finanziellen Zuschuss des Jobcenters für Schulmittel. Die drei Kinder, um die es bei diesen Papieren geht, hat er gerade kennengelernt: Ambra, Edi und Simona. Heute sind sie elf, neun und sieben Jahre alt. Sie gehen alle in die Schule und Edi hat schon ganz konkrete Pläne für später: Er will in der Bank am Schalter arbeiten. Flogert Male, das weiß Perkuhn, hat zwar den Traum, Fliesenleger zu werden, doch liegt darüber eigentlich etwas viel Größeres: Die Kinder sollen es mal besser haben. Dazu gehört für beide Elternteile, dass die Kinder auch gute Bildung bekommen. Sie füllen gemeinsam die Papiere Seite für Seite aus.

Ein Kind steht neben einer sitzenden Frau und legt die Hände auf ihre Schulter.
Gemeinsam neue Perspektiven entwickeln: Wenn Perkuhn zu Besuch ist, ist die ganze Familie dabei. Quelle: Werner Krüger

Flogert Male und seine Familie kommen aus Italien. Male verdiente zu wenig und bekam seinen Lohn nur unregelmäßig. Aber er war ein Fan von Deutschland. „Dort gibt es gute Arbeit und sie sind pünktlich in der Lohnabwicklung“, war er sich sicher. Er spricht mittlerweile so fließend Deutsch, dass ihm das Wort „Lohnabwicklung“ flott über die Lippen rollt. Vor vier Jahren packten sie ihre Sachen und zogen nach Nienburg. Ein Freund hatte sie eingeladen. Weil Male in Nienburg nur Teilzeitjobs und seine Frau gar nichts fand, meldeten sie sich wenige Monate nach ihrem großen Umzug beim Jobcenter.

Ihren aktuellen Fallmanager Oliver Perkuhn sahen sie zum ersten Mal im Februar 2017. Für Males Frau ging es erst mal darum, Deutsch zu lernen. Er selbst wollte baldmöglichst einen Job in Vollzeit finden. Perkuhn hatte sofort einen guten Eindruck von ihm. „Herr Male“, fand er, „das ist ein intelligenter, freundlicher Mann, der gut Deutsch spricht und sehr motiviert ist. Das wird sicher bald mit einer Arbeitsaufnahme klappen.“ Auch Male ging zufrieden aus dem Gespräch. Er dachte: „Herr Perkuhn und ich, wir haben ein ähnliches Alter. Wir werden uns gut verstehen.“

„Manches ist für uns nicht so schwierig, aber für einen Kunden ein riesiges Problem.“

Der Landkreis Nienburg hat einen ländlichen Charakter mit überwiegend kleinen und mittelständischen Unternehmen. Außerdem sind Hannover und Bremen nicht weit. Die Arbeitslosenquote liegt bei etwas über vier Prozent. Und wie geht Perkuhn die Beratung mit seinen Familien an? Nicht die eigenen Vorstellungen zur Messlatte nehmen. Es zählt nur die seiner Kundinnen und Kunden. „Manches ist für uns nicht so schwierig, aber dann merke ich, dass es für einen Kunden ein riesiges Problem ist.“ Er erinnert sich da an Familie Male, die Forderungen vom Rundfunkbeitragsservice völlig aus der Bahn geworfen haben, während Perkuhn von Anfang an sicher war: Das lässt sich doch regeln.

Wenige Monate nach dem ersten Treffen zwischen den Males und Oliver Perkuhn, startete im Juli 2017 im Jobcenter Nienburg das FiF-Programm. Ob Familie Male sich vorstellen könne, da mitzumachen? Das FiF-Programm ist eine rein freiwillige Angelegenheit. Es sieht regelmäßige Hausbesuche vor und eine intensive Betreuung durch die Fallmanagerinnen und -manager. Das bedeutet für die Familien auch: Sie geben viel mehr von sich preis, als nur den Wunsch, Arbeit zu finden. Die Kundinnen und Kunden öffnen nicht nur die Türen zu ihren Wohnungen, sondern auch ein Fenster in ihr Privatleben. Male und seine Frau sind sofort einverstanden.

Perkuhn sitzt am Schreibtisch
Internes Netzwerken: Mit seiner Kollegin Kim-Xuan Laura Leonhard bespricht Fallmanager Perkuhn, wie seine Kundinnen und Kunden die Angebote des Jobcenters am besten nutzen können. Quelle: Werner Krüger

Eine Frau mit Brille und Sommersprossen.
Quelle: Werner Krüger

Perkuhn telefoniert von nun an mehrmals im Monat mit den Ehepartnern, fährt auch erstmals zu ihnen nach Hause. Sieht, wie sie sich in einem Mietshaus in einer Einfamilienhaussiedlung eingelebt haben, und hilft, Formulare auszufüllen. Sein Ziel ist klar: Er will die Familie von Lasten befreien, die sie daran hindern, sich auf die Arbeitssuche zu konzentrieren. Auch um die Briefe des Rundfunkbeitragsservices kümmert er sich. Und Perkuhn berät die Ehefrau, wie sie ihren Sprachkurs wiederaufnehmen kann, den sie wegen fehlender Kinderbetreuung unterbrechen musste.

„Psychische Probleme kommen oft erst bei Hausbesuchen zur Sprache.“

Oliver Perkuhn kann sich Zeit nehmen, weil er wesentlich weniger Kundinnen und Kunden betreut, als eine Vermittlungskraft in seinem Haus: 50 Bedarfsgemeinschaften sind es pro Fallmanagerin und Fallmanager. Seit Beginn des Jahres konnte er zusammen mit den beiden anderen Mitarbeitenden im FiF-Projekt 26 Kundinnen und Kunden integrieren. Vor allem die Hausbesuche helfen, Schwierigkeiten aus dem Weg zu räumen. Mindestens zweimal die Woche fährt Perkuhn zu einer von ihm betreuten Familie. „Manchmal“, sagt Perkuhn, „kommen bestimmte Probleme, beispielsweise psychische, erst bei Hausbesuchen zur Sprache. Dort haben sie weniger Hemmungen zu schildern, wie es ihnen geht.“ Es ist ein anderes Setting. Zu Hause, das bedeutet Sicherheit. Und Sicherheit schafft Selbstvertrauen. „Viele meiner Kundinnen und Kunden mit Migrationshintergrund sprechen auch bei Terminen im eigenen Zuhause plötzlich viel sicherer Deutsch, während die Kommunikation im Jobcenter eher schwierig ist.“

Ein Kind hält ein bemaltes Papier in die Höhe und sitzt vor einem Spielbereich im Jobcenter.
Von was träumst du? Die Kinder der Familien, die im Nienburger Projekt „Familie im Focus“ betreut werden, werden bald zu einer Mal-Aktion ins Jobcenter eingeladen. Dann dürfen sie aufs Papier bringen, worauf sie sich freuen, wenn ihre Eltern wieder Arbeit haben. Quelle: Werner Krüger

Oder es sind die Lebensumstände, die ins Auge fallen. Als Perkuhn eine andere Familie in einer sehr abgelegenen ländlichen Gegend besuchte, wurde ihm klar, wie aufwendig es ist, von dort wegzukommen. Er sah die weit entfernte Bushaltestelle und den spärlichen Bushalteplan. Ein Auto? Zu teuer für die Familie. Der Mann, der seit 2008 zusammen mit seiner Frau und zwei Kindern beim Jobcenter gemeldet ist, ist auch noch gesundheitlich angeschlagen. Über Jahre hatte er vergeblich versucht, eine Arbeit zu finden. Auch seine Frau hatte nach einer abgebrochenen Ausbildung nie gearbeitet. „Resigniert wirkten sie“, sagt Perkuhn, als er sie im Rahmen des FiF-Projekts betreute. Doch dann fassten sie neuen Mut. Als kurz darauf ein Arbeitgeber in Nienburg einen Gabelstaplerfahrer suchte, bewarb sich der Familienvater, und als klar war, dass er eingestellt werden wurde, förderte das Jobcenter den Kauf eines Autos. Ohne eigenen Pkw hätte er das Jobangebot nicht annehmen können.

Das Glück kam nicht allein. Kaum war der Kunde Gabelstaplerfahrer geworden, fand auch die Ehefrau Arbeit. Um ihr zu helfen, hatte Perkuhn aus seinem hausinternen Netzwerk geschöpft: der Startoffensive. Sie unterstützt Menschen dabei, ihre Stärken wirkungsvoll in Bewerbungsunterlagen darzustellen. Perkuhn legte ihr nahe, dort mitzumachen. Daraufhin schaffte die Kundin dann auch tatsächlich den Schritt zu einer Anstellung als Schulbegleiterin – eine Teilzeitstelle, die es ihr gleichzeitig ermöglicht, ihre Kinder zu betreuen.

Interne sowie externe Netzwerke zu nutzen oder neu zu bilden, das ist eines der wichtigsten Arbeitsinstrumente
von Perkuhn. Denn klar ist: Er kann nicht jedes Problem alleine lösen. Er weiß aber, wer helfen kann: das Jugendamt, die Schulen, lokale Sozialdienste, das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge oder die Kolleginnen und Kollegen im eigenen Haus. Etwa aus den verschiedenen Kompetenzteams – wie dem Team für Selbstständige, für Erwerbsunfähige, für unter 25-Jährige oder für Geflüchtete. Im Programm „Familie im Focus“, da gibt es alle diese „Fälle“. Weil dort die Familienkonstellation im Fokus steht und nicht der einzelne Mensch als Arbeitskraft.

Im Juni dieses Jahres erreicht Perkuhn eine Anfrage vom Arbeitgeberservice seines Jobcenters: Das Fliesenhaus in Nienburg suche jemanden für eine Stelle als Fliesenleger. Der Fallmanager muss nicht lange nachdenken. Sofort ruft er bei Flogert Male an und wenige Tage später beginnt dieser ein einwöchiges Praktikum in dem Betrieb. Seit Anfang August hat Male dort eine Vollzeitstelle: Das erste Jahr als Helfer, danach kann er dort eine Weiterbildung zum Fliesenleger beginnen. Wenn er die Qualifizierung abgeschlossen habe und mehr Geld verdiene, dann, sagt Male, wollten sie ihr nächstes Ziel ins Visier nehmen: irgendwann ein Haus zu kaufen. In Deutschland. „Nach Italien wollen wir nicht zurück“, sagt er. „Da fahren wir nur noch in den Urlaub hin.“

Wie die Wünsche der Kinder die Eltern bei der Arbeitssuche motivieren können, berichtet Sabine Reuber, Teamleiterin des Projekts „Familie im Focus“ im Interview.