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3 Fragen an Ulrich Nehring

23. März 2023

Ulrich Nehring ist Geschäftsführer des Jobcenters Hildesheim. Das Jobcenter hat sich von dem Gedanken, Beratungsarbeit könne nur am Schreibtisch stattfinden, bereits im Jahr 2019 verabschiedet.

Ulrich Nehring, Geschäftsführer des Jobcenters Hildesheim.
Ulrich Nehring, Geschäftsführer des Jobcenters Hildesheim. Quelle: Anastasia Schuster/ Servicestelle SGB II

Herr Nehring, bereits seit dem Jahr 2019 beraten Ihre Mitarbeitenden Leistungsbeziehende auch außerhalb des Jobcenters. Wie kam es zu dem Entschluss, dass Beratungsarbeit nicht ausschließlich am Schreibtisch stattfinden muss?

Ulrich Nehring: Unsere sozialräumliche Ausrichtung, mit der wir im Jahr 2019 begonnen haben, ist eng mit der besonderen Struktur unseres Landkreises, aber auch mit der unserer Leistungsbeziehenden verknüpft. Wir betreuen an insgesamt fünf Standorten fast 20.000 Leistungsbeziehende im Landkreis Hildesheim. Die nördlichen Teile grenzen an die Region Hannover, die Landeshauptstadt ist nicht fern. Eine Besonderheit: In der Hildesheimer Nordstadt wohnt fast die Hälfte unserer Leistungsbeziehenden, die meisten davon mit Migrationshintergrund. Viele haben zudem keine abgeschlossene Ausbildung. Der Südkreis hingegen ist deutlich ländlicher geprägt. Hier sind beispielsweise Mobilitätsfragen ein häufiges Problem. Insgesamt sind die Strukturen also sehr heterogen. Vor allem mit Blick auf die Nordstadt haben wir damals gemerkt, dass wir uns anders aufstellen müssen, wenn wir die Menschen erreichen und gut mit ihnen zusammenarbeiten wollen. Wir sind damit gestartet, in die Bezirke reinzugehen, auf Netzwerkarbeit zu setzen und vor Ort, etwa in sozialen Treffpunkten, präsenter zu sein. Schnell haben wir gemerkt, dass sich mit den Leistungsbeziehenden in deren vertrauten Milieus ganz andere Gespräche ergeben als bei uns im Jobcenter. Die Abkehr vom klassischen Beratungssetting bricht die Bewegungslosigkeit auf, die wir sonst oft erlebt hatten. Um gute Ergebnisse mit den Menschen zu erzielen, hilft es, die eigene Arbeitsweise zu hinterfragen und sich die Struktur der Leistungsbeziehenden genau anzusehen.

Bei der Umsetzung des Bürgergeldes setzen Sie auf eine einheitliche interne Kommunikation durch vier sogenannte Bürgergeld-Guides. Warum haben Sie sich für diese Herangehensweise entschieden?

Ulrich Nehring: Natürlich könnte ich das Bürgergeld und die damit verbundenen Änderungen einfach in die Organisation, die ein Jobcenter nun mal ist, reinspielen und von meinen Mitarbeitenden fordern, ihren Dienst schlichtweg nach den neuen Vorschriften zu erledigen. Jobcenter sind geübt darin, fachliche Weisungen und Gesetzänderungen umzusetzen. Allerdings wären wir dann schnell beim zwölften Änderungsgesetz des SGB II. Das Bürgergeld aber bedeutet eben nicht nur materiellrechtliche Änderungen, sondern zwischen den Zeilen auch eine Änderung der Weise, wie wir mit unseren Leistungsbeziehenden fortan zusammenarbeiten. Durch die sozialräumliche Ausrichtung sind wir bereits vertraut damit, unkonventionelle Wege für die konstruktive Zusammenarbeit zu finden. Und dennoch war es uns wichtig, vor allem die Zwischentöne des Bürgergeld-Gesetzes bereits vor dessen Inkrafttreten zu begleiten. Denn das Bürgergeld richtet sich auch an die eigene innere Einstellung: Was machen die Änderungen mit mir selbst? Woran störe ich mich womöglich – und wie kann ich damit umgehen? Über diese Fragen konnten sich meine Mitarbeitenden schon vorab bei den Bürgergeld-Guides im Rahmen von Workshops und Galeriearbeiten „auskoddern“. Natürlich geben die Bürgergeld-Guides auch die aktuellen Weisungen weiter und machen die Kolleginnen und Kollegen fachlich sattelfest. Aber es ist ebenso wichtig, über Dinge, die das Mindset betreffen, zu reden, bevor sie sich anstauen. Zwischen den Zeilen des Bürgergeld-Gesetzes lese ich im Übrigen auch die Frage, ob es generell eines anderen gesellschaftlichen Umgangs miteinander bedarf: Wie will der Staat, wie wollen wir Menschen künftig gegenübertreten?

Personelle Engpässe, und das Bürgergeld ist aktuell nur eine Herausforderung von mehreren: In vielen Jobcentern ist die Situation angespannt. Wie sieht es in Ihrem Jobcenter aus?

Ulrich Nehring: Die Jobcenter sind zuletzt von einer Herausforderung in die nächste geschlittert, das stimmt. Ich bin ehrlich: Auch für uns war das Bürgergeld zu diesem Zeitpunkt nochmal ein ziemliches Brett, das hinzukam. Im Vergleich zu der Zeit vor der Corona-Pandemie haben wir 50 Prozent mehr Neuanträge, die mehrheitlich digital oder über das Postfach eingereicht werden. Gleichzeitig hat sich die Erwartungshaltung der Antragstellerinnen und Antragsteller seit der Pandemie geändert – vor allem hinsichtlich der Leistungsbewilligung. Die Corona-Hochphasen und Erkältungswellen haben auch in unserem Jobcenter zu hohen Krankenständen geführt, und natürlich gibt es auch bei uns unbesetzte Stellen. Ich nenne solche Phasen „Stresstests“ für unser Haus. Hinzu kommt, dass wir bei rund 300 Mitarbeitenden 90 verschiedene Arbeitszeitmodelle an fünf verschiedenen Standorten haben. Die müssen alle zusammengeführt werden, was im Zuge von New Work nochmal eine neue Herausforderung ist. Gleiches gilt für die Frage, wie gute Führung über Distanz gelingt. Uns beschäftigen also nicht nur die Veränderungen von außen, sondern auch interne organisatorische Umbrüche. Dennoch blicken wir in Hildesheim positiv nach vorne. Anders geht es auch nicht: Manche Dinge können wir selbst zwar nicht ändern, aber wir können das Beste für uns daraus machen. Nur so lassen sich Umbrüche meistern.

Sie wollen mehr über die Arbeit der Bürgergeld-Guides im Hildesheimer Jobcenter erfahren? Dann schauen Sie in diese Projektreportage.