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Unter sieben Dächern

9. Mai 2019

Festland, Inseln, Halligen: Das kommunale Jobcenter Nordfriesland ist über den gesamten Landkreis verteilt. Im Umgang mit den Menschen in Leistungsbezug und dem lokalen Arbeitsmarkt verfolgt es eine durchdachte Strategie.

Im Vordergrund liegt ein blaues Schiff in flachem Wasser, im Hintergrund ist ein Gebäudekomplex aus rotem Backstein zu sehen.
Das Rathaus am Husumer Innenhafen bei Ebbe. Quelle: Andreas Birresborn

Zweimal täglich zieht sich das Wasser aus dem Binnenhafen Husum zurück, die Schiffe liegen bräsig im Watt. Sechs Stunden später hebt die vom nordfriesischen Wattenmeer hereinrollende Flut die Schiffsleiber wieder an. Ein sinnfälliges Schauspiel, das sich nur wenige Gehminuten von Henning Carstensens Büro abspielt. Das Husumer Sozialzentrum am Zingel 10 ist das größte der sieben Sozialzentren im Landkreis. Die Jobcenter des Kreises sind jeweils Teil der Sozialzentren, in denen rechtskreisübergreifend auch andere Hilfen angeboten werden, zum Beispiel Wohngeld, Schuldnerberatung oder Grundsicherung im Alter. Die Idee ist, dass die Bürgerinnen und Bürger in jeder Anlaufstelle möglichst viele soziale Anliegen klären können.

Backsteinhaus unter graublauem Himmel
Das Gebäude des Jobcenters am Rathaus, im Volksmund auch Ferkelhalle genannt. Quelle: Andreas Birresborn

Jobcenter und Sozialzentrum auf einem Flur

Henning Carstensen, der privat gern am Herd und auf dem Golfplatz steht, ist seit mehr als zwei Jahren Amtsleiter des Sozialzentrums Husum und Umgebung. Er arbeitet in einem Gebäude mit freundlicher Architektur, das, so könnte man vermuten, Besucherinnen und Besucher anzieht. Carstensen schüttelt den Kopf. „Unsere Kundinnen und Kunden kommen in der Regel ja nicht freiwillig zu uns, sondern weil eine besondere Notlage sie dazu zwingt. Unser Anspruch ist es, diese Menschen in ihrer jeweiligen Situation anzunehmen und ihnen auf Augenhöhe zu begegnen. In eine soziale Problematik zu stürzen, kann jedem von uns passieren.“

Ein Mann in Anzug und Krawatte unterschreibt ein Dokument.
Henning Carstensen, Amtsleiter des Sozialzentrums Husum und Umgebung. Quelle: Andreas Birresborn

In dem nordfriesischen Behördenkonstrukt ist Carstensen Diener zweier Herren. Da wäre zum einen − auf Stadtseite − der Husumer Bürgermeister. Zum anderen ist das Sozialzentrum dem Fachdienst Arbeit der Kreisverwaltung Nordfriesland angegliedert.
Die Vorteile für die Besucherinnen und Besucher liegen auf der Hand. Was aber ist der innerbetriebliche Nutzen, wenn Jobcenter und Sozialzentrum derart verflochten sind? Carstensen überlegt kurz, bevor er antwortet. „Ich erlebe die Zusammenarbeit als gewinnbringend. Wir haben hier in Nordfriesland sehr unterschiedliche Regionen, sei es die Insel Sylt, sei es die 22.000-Einwohner-Stadt Husum, seien es die eher ländlichen Gebiete. Und da ist es wichtig, die unterschiedlichen Erlebnisse und Sichtweisen der Kolleginnen und Kollegen zu hören und zu berücksichtigen, damit ein Abgleich zwischen den Regionen möglich wird. Und auch wenn wir uns in einzelnen Punkten nicht immer einig sind: am Ende finden wir entweder einen gemeinsamen Nenner oder wir entscheiden uns punktuell für Insellösungen.“ Ein Beispiel für solch eine individuelle Maßnahme ist die Fachstelle für Selbständige, die nur in Husum angesiedelt wurde.

Ebenfalls hier im Ort finden regelmäßige Arbeitsmarktbesprechungen der sieben Zentren statt, bei denen Wirtschafts- und Arbeitsmarktdaten analysiert sowie inhaltliche Maßnahmen und Zielgruppenschwerpunkte besprochen werden. Schließlich handelt es sich um unterschiedlich große Einzugsbereiche mit ganz unterschiedlichen Arbeitsmarkttypen und -strukturen.

Soziales Handeln auf fünf Inseln und zehn Halligen

Um auf Carstensens zweiten Vorgesetzten Axel Scholz zu treffen, ist ein Ortswechsel nötig. Der Jobcenterchef sitzt eine Viertelstunde Fußmarsch Richtung Norden entfernt im eher schmucklosen Kastenbau der Husumer Kreisverwaltung. Durchs Fenster im dritten Stock sieht man graue Dächer und etwas Himmel.

Ein großer Gebäudekomplex ist zu sehen, vor dem eine Hecke angelegt ist.
Das Hauptgebäude der Kreisverwaltung Husum. Quelle: Andreas Birresborn

Axel Scholz, ein hochgewachsener, schlanker Vater von drei Kindern, lacht auf die Frage, ob er lieber im 5. Stock säße, von wo aus er freien Blick auf die Nordsee hätte. „In meiner Freizeit genieße ich mit meiner Familie das Baden in der Nordsee, der echte Kontakt zum Wasser hat mehr Relevanz für mich.“ In Scholz’ Büro haben sich an diesem Novembervormittag drei weitere Fachkräfte eingefunden. In dem Gespräch geht es um die Besonderheiten des Flächenkreises, gesunden Pragmatismus und die nordfriesische Nachhaltigkeitsquote.

Mann steht in Regenjacke auf einer Brücke. Es regnet leicht, im Hintergrund ist ein roter Gebäudekomplex zu erkennen.
Geschäftsführer Axel Scholz kennt sich aus mit Ebbe und Flut − auch auf dem Arbeitsmarkt. Quelle: Andreas Birresborn

Der Begriff Flächenkreis trifft doppelt zu: Nordfriesland ist von zahlreichen Inseln und Halligen gekennzeichnet − Berge oder Hügel Fehlanzeige. Der Kreis gehört zu den am dünnsten besiedelten Landstrichen Deutschlands, etwa 165.000 Menschen leben hier in weit über 100 Gemeinden. „Eine Strategie, mit der wir auf unsere geographische Situation reagieren, ist, dass wir mit unseren Häusern in die Breite gegangen sind“, erklärt Renate Fedde, Geschäftsbereichleiterin Integration. „Uns war es wichtig, dass wir da sind, wo die Menschen leben.“ Das lässt sich mit einer beeindruckenden Zahl untermauern: Mehr als 20 Kilometer muss kein Nordfriese zurücklegen, um eines der sieben Sozialzentren zu erreichen. „Wir mussten gut überlegen, wo wir Standorte begründen, um die Wege für die Menschen kurz zu halten und trotzdem dienstleistungsstark zu bleiben“, fügt Axel Scholz hinzu. Entsprechend klein sind manche der Örtlichkeiten: fünf Beschäftigte beispielsweise in Wyk auf Föhr − bei vollen Öffnungszeiten. Wenn da mal die Grippe umgeht, liegt unter Umständen das gesamte Sozialzentrum im Krankenbett.

Der Vorteil: Die Jobcenter-Beschäftigten kennen die lokalen Arbeitgeber fast alle beim Namen und wissen genau, wo es gerade Arbeit gibt und wo nicht. „Solches Detailwissen kann man von einem Mutterhaus in einer Gegend mit fünf Inseln und zehn Halligen nicht erwarten. Das funktioniert nur aus der Nähe“, so der 46-Jährige. O-Ton Scholz: „Wir im Husumer Kreishaus bauen die Straßen, unsere Mitarbeiter in den sieben Zentren fahren darauf.“

Eine wartende Person ist aus einer erhöhten Perspektive zu sehen. Hinter der Person, die auf einem Stuhl sitzt, ist ein großer Heizkörper zu sehen.
Architektonisch angenehm kleinteilig: das Sozialzentrum Husum und Umgebung. Quelle: Andreas Birresborn

„Wir haben in den ersten fünf Jahren als Optionskommune versucht, durch unsere Erfolge zu überzeugen“, resümiert Renate Fedde. 2010 erfolgte die Entfristung als Optionskommune, seitdem gehört Husum fest zur Sparte der kommunalen Jobcenter.
Ein Garant für die gute Arbeit ist der gute Personalschlüssel. Insgesamt 170 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter betreuen 5.100 Bedarfsgemeinschaften. Die 47-jährige Husumerin Renate Fedde, die in ihrer Freizeit in einer Percussion-Band spielt und Tango tanzt, lässt keinen Zweifel daran, dass sie beim Personal ungern Abstriche machen würde. „Wir möchten, dass die Kolleginnen und Kollegen genug Zeit haben für die Begleitung der Kundinnen und Kunden in SGB II-Bezug.“

Hilfe zur Selbsthilfe geben

„Wir haben mit der Umstrukturierung ab 2005 auch erstmal dazulernen und unsere Klienten neu kennenlernen müssen“, erinnert sich Fedde. „Wir waren ja nicht die Arbeitsmarktexperten, wir waren die Sozialexperten. 2012 haben wir einen Ansatz eingeführt, mit dem unsere Fachkräfte anfingen, sozialraum- und ressourcenorientiert zu arbeiten. Im Klartext: Wir bringen Menschen nicht in Arbeit; Menschen gehen in Arbeit, wenn sie soweit sind. Wenn wir unseren Instrumentenkoffer aufmachen, kann das fast immer etwas bewirken. Aber ebenso wichtig ist der fachliche Ansatz, die Menschen dahin zu führen, dass sie Hilfe als Selbsthilfe begreifen.“

Portrait von Renate Fedde. Sie hat mittelkurze, blonde Haare, gestikuliert und spricht.
Renate Fedde leitet den Bereich Integration im Jobcenter Nordfriesland. Quelle: Andreas Birresborn

Beißt sich diese Überlegung nicht mit dem Grundgedanken der Sozialgesetzgebung, der auch ein Pflichtelement enthält? „Das klingt nach einem Widerspruch“, nickt Fedde. „Unsere Erfahrungen haben aber gezeigt: Wenn wir Menschen zwingen, eine bestimmte Arbeit aufzunehmen, dann führt das nicht dazu, dass dieser Mensch die Stelle gern annimmt, weil ihm dieser Job vielleicht nicht entspricht.“ Daher setzt man im Landkreis auf die Motivation der Arbeitsuchenden und versucht, ihre Interessen herauszuarbeiten, Stärken zu finden, Ziele zu entwickeln und sie dabei zu unterstützen, diese zu erreichen. Also nicht zu denken, man wisse schon, was für die andere Seite passend sei. Für diesen Zweck haben Fedde und ihr Team spezielle Fragetechniken entwickelt. Es geht darum, das Gegenüber zu ermutigen, selbst zu agieren und nicht die Verantwortung abzugeben. Dabei wird darauf geachtet, schrittweise vorzugehen, entlang dessen, was der Mensch leisten kann. „Wie erfahre ich den echten und ehrlichen Willen desjenigen, der vor mir sitzt?“, sagt Fedde. „Was macht dem Menschen Spaß, wovon träumt er? Mancher hält sich nämlich zurück oder sagt das, von dem er meint, dass die Fachkraft es hören will.“ Dieser stärkenorientierte Ansatz und die gezielte Anknüpfung an berufliche Interessen und Wünsche der Leistungsberechtigten schließen Leistungsminderungen bei Melde- bzw. Pflichtverletzungen nicht aus. Aber dies passiere eher am Anfang als am Ende, und es sei keine Endloskette an Bescheiden für die Betroffenen, so Fedde.

Pendlerströme im Sommer, Ebbe im Winter

Die eher kleinteilige Wirtschaftsstruktur macht die Arbeitsaufnahme im Landkreis nicht leicht. Die Region lebt vom Tourismus, vom klein- und mittelstädtischen Handwerk, von Landwirtschaft und Einzelhandel. Und so, wie das Wasser der Nordsee regelmäßig um Tönning, Dagebüll, Föhr und Sylt schwappt, gibt es eine Haupt- und Nebensaison in Nordfriesland. Ein Sechstel der Integrationen erfolgt im April. Entsprechend schwächer zeigen sich die Monate November und Dezember. Im Sommer fließen Pendlerströme aus der Mitte des Landkreises nach Nord und Süd, allein nach Sylt kommen an die 4.000 Leute. Das bedeutet, dass im restlichen Nordfriesland dann viel ungünstigere Beschäftigungsbedingungen herrschen.

Trotz dieser zyklischen Konstellation schreibt das Jobcenter Nordfriesland solide Zahlen: Die Arbeitslosenquote liegt bei knapp sechs Prozent, die Anzahl der Langzeitarbeitslosen ist auf einem historischen Tiefstand, die Quote der nachhaltigen Integrationen lag im September 2018 bei 67,3 Prozent. „Diese Quote erfüllt uns mit Stolz“, sagt Gunnar Hinrichs, seit 2008 im Controlling tätig. „Sie ist Ausdruck unserer Arbeit sowie des Arbeitsmarktes. Der ist momentan sehr offen und nimmt Kundinnen und Kunden auf, hinter die unser Fallmanagement riesengroße Fragezeichen gemacht hatte. Stellenweise haben wir Leute in Arbeit gebracht, die fünf Jahre ohne Job waren.“

Portrait von Gunnar Hinrichts. Er ist ein Mann mit kurzen braunen Haaren, blauem Hemd und spricht.
Gunnar Hinrichs vom Bereich Controlling des Jobcenters. Quelle: Andreas Birresborn

Die Quote der nachhaltigen Integrationen beschreibt, welcher Anteil der integrierten Personen sich 12 Monate nach der Beschäftigungsaufnahme immer noch oder wieder in einem sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis befindet. Hinrichs nennt das Beispiel vom Weihnachtsmann, der zur Freude aller bei der jährlichen Überprüfung im Dezember voll sozialversicherungspflichtig beschäftigt sei, den Rest des Jahres aber keinen Job habe, und trotzdem als nachhaltig integriert gelte. Deshalb berichtet der studierte Betriebswirt, dass zwei weitere Quoten ergänzende Hinweise zur Qualität der Integrationen liefern. Zum einen die Quote der kontinuierlichen Beschäftigung nach Integration, die das gesamte Halbjahr nach einer Integration reflektiert. Hier liegt das Jobcenter im März 2019 bei 60,2 Prozent. Zum anderen gibt es die Quote der bedarfsdeckenden Integrationen, die misst, ob die gesamte Bedarfsgemeinschaft durch die Integration ihren Lebensunterhalt bestreiten kann. Diese lag im September 2018 bei 48,7 Prozent.

Natürlich ist die letztgenannte Quote leichter zu erhöhen, wenn die Bedarfsgemeinschaft aus einer einzigen oder zwei Personen besteht, als wenn da eine fünfköpfige Familie zu versorgen ist. „Je größer die Familie ist, desto schwieriger wird es“, wirft Axel Scholz ein. „Wenn man das ins Gesamtbild einbezieht, zeigt es, dass unsere Strategie, mit den Leistungsberechtigten so wie vorhin erläutert zu arbeiten, richtig ist. Würde allerdings die Nachhaltigkeit oder eine der anderen beiden Quoten plötzlich in den Keller gehen, würden wir unseren Weg sofort hinterfragen. Das geht alles Hand in Hand.“

Jugendhilfe und Jobcenter im Verbund

Hand in Hand arbeiten im Landkreis auch Jugendhilfe und Jobcenter. Im Zusammenspiel beider offenbart sich eine für Nordfriesland typische systemische Denkweise: „Je früher und schneller wir mit den Jugendlichen arbeiten, desto realistischer verhindern wir einen frühen Leistungsbezug“, formuliert es Scholz.
Auch die Integration der Alleinerziehenden hat Scholz immer im Blick. Sein engster Verbündeter auf diesem Feld ist Daniel Thomsen. Der 41-Jährige leitet den Fachbereich Jugend, Familie und Sport und hantiert mit Begriffen wie Kindeswohlgefährdung, Stromkostenübernahme und Eltern-Kind-Bindung.

Ein Mann mit braunen Haaren spricht und gestikuliert mit den Händen. Im Hintergrund ist ein Planungsboard zu sehen.
Daniel Thomsen, Leiter des Fachbereichs Jugend, Familie und Bildung. Quelle: Andreas Birresborn

Wird zum Beispiel jemand in Arbeit vermittelt, der ein dreijähriges Kind zu betreuen hat, geht Thomsen kurz über den Flur zu Scholz und setzt sich dafür ein, dass gemeinsam mit dem Arbeitgeber eine Lösung gefunden wird, wie der- oder diejenige alles am besten miteinander vereinbaren kann. Besteht beispielsweise ein Bedarf für Kinderbetreuung, nimmt Thomsen das ernst und schafft mit den Städten, Gemeinden und Tagespflegepersonen Möglichkeiten, damit Menschen kein Hemmnis in der Arbeitsvermittlung haben. Dabei finden in den gemeinsamen Außenstellen von Jobcenter und Jugendamt – neben den kurzen dienstlichen Wegen – auch gemeinsame Fallbesprechungen nach einem gemeinsamen Fachkonzept zur Sozialraumorientierung statt. Auch hier stehen Menschen und deren Ziele im Vordergrund.

Zwei Männer in Jackets sprechen miteinander, einer zeigt dem anderen ein Dokument.
Axel Scholz und Daniel Thomsen arbeiten in der Kreisverwaltung Tür an Tür. Quelle: Andreas Birresborn

Thomsen ist seit zwanzig Jahren in der Kreisverwaltung tätig und bestens vernetzt. Er hat einen kurzen Draht zu den Kita-Trägern und vermag auch Wochenendbetreuung zu organisieren oder Öffnungszeiten zu verlängern. Schulen können bei ihm eine Sozialarbeiterin oder einen Sozialarbeiter anfordern, und er fördert auch mal ein Mütterfrühstück aus Jugendhilfemitteln. Im Regionalteam spricht er mit zehn Expertinnen und Experten aus zehn Blickwinkeln über einen Fall, egal wie kleinschrittig die Ziele der Hilfesuchenden sein mögen: Ich möchte mein Kind weniger anschreien; ich möchte, dass es regelmäßig zur Schule geht; ich möchte, dass meine Wohnung aufgeräumt ist; ich möchte mehr auf Hygiene achten.

Muss Thomsen in manchen dieser Fälle nicht eingreifen? „Das ist nie unser erster Gedanke“, schüttelt der Nordfriese den Kopf. „Im Gegenteil. Wir sagen den Menschen: Danke, dass Sie so offen und ehrlich zu uns sind. Wie bekommen wir das gemeinsam hin, dass Sie eine Auszeit kriegen und Luft holen können, damit Sie sich danach gestärkt wieder Ihrem Kind widmen können?“

Aus Neuseeland hat der Verwaltungswissenschaftler die Idee der Familiennetzwerkkonferenz übernommen. Alle beteiligten Personen sind dabei eingeladen, die ganze Familie wird gefragt: Welche Ideen habt ihr selbst? Vielleicht kann man den Opa oder die Nachbarn in die Lösungen einbeziehen? Diese Idee nutzt auch das Jobcenter, indem es die Familie und den Sozialraum als Ressourcen für die Integration in Arbeit einsetzt oder einbezieht, wenn es um die persönliche Zukunftsplanung der Arbeitssuchenden geht.

Im Vordergrund ist eine Trennwand zu sehen, auf ihr steht "Jobcenter, Antragstellung". Im Hintergrund wartet eine Person.
Das Jobcenter empfängt seine Besucher im Sozialzentrum mitten in der Stadt. Quelle: Andreas Birresborn

Hier zeigt sich der Vorteil einer kleinräumigen Region: Jeder kennt jeden, Wege in Vereine und Verbände öffnen sich leichter, Betreuung und Fahrgemeinschaften sind rascher gefunden, kurz: Ehrenamtliches Engagement ist besonders verbreitet.

Thomsen, der privat gern musiziert, Gitarre, Klavier und Schlagzeug spielt, ist sich sicher: „Der Staat wird auf Dauer nicht alle Probleme der Menschen lösen können, und das muss er auch nicht. Wir haben so viele Ressourcen in der Gesellschaft! Ich finde, der Staat sollte sich eher darauf konzentrieren, diese Ressourcen zu aktivieren. Man muss sich nur trauen, diesen Weg zu gehen.“

Menschen die Ängste nehmen

Die aktuelle öffentliche Diskussion um die Sozialgesetzgebung wird auch in Nordfriesland aufmerksam verfolgt. Daniel Thomsen hält sich derzeit wiederkehrend im Bundesfamilienministerium in Berlin auf, arbeitet dort an der Neuausrichtung des SGB VIII mit. Er wünscht sich mehr Flexibilität und Pragmatismus im Gesetzesgeist. „Die Grundhaltung hier ist noch eher bürokratisch als menschlich.“ Sein Ziel ist es, den Zugang zu Sozialleistungen so niedrigschwellig wie möglich zu gestalten. „Menschen haben oft Angst vor Behörden.“
Jobcenterchef Scholz findet das SGB II im Grunde gut. Es sei etwas in die Jahre gekommen, aber nach dem zehnten Änderungsgesetz auch nicht mehr das von 2004. Zur Zukunft der Sozialgesetzgebung meint er: „Ich unterstütze jeden Ansatz für eine auf den Einzelfall ausgerichtete Förderung, mit langem Atem, auf Nachhaltigkeit ausgerichtet − wenn man das alles noch deutlicher in eine Gesetzessprache bringen könnte, wenn das zum Selbstverständnis wird, wäre das super.“

Die Interviews für dieses Jobcenter-Porträt wurden zwischen Ende November 2018 und Januar 2019 geführt.