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Wir nennen das Ganze auch Y-Modell

26. September 2018

Die guten Ergebnisse des Jobcenters Herzogtum Lauenburg basieren auf drei Stärken: Ideenreichtum, Organisationstalent und Begeisterung.

Das Logo des JC Herzogtum Lauenburg.
Das Logo des JC Herzogtum Lauenburg. Quelle: Hanna Lenz

Das Segelflugzeug gleitet am Sommerhimmel, zieht einen Kreis über die Seenlandschaft, sinkt dann auf Bodenhöhe und landet im staubtrockenen Gras. Schülerin Lena Rabe* klappt das Kabinendach auf und strahlt. Mitschüler Tim Gerstens* kommt angerannt und hilft ihr, aus der Kabine zu klettern. Es ist ein heißer Mittwochnachmittag im Juli. Lena und Tim sind mit ihrem Ausbildungsleiter Alexander Willberg von der Produktionsschule Ratzeburg auf das Lübecker Flugfeld gefahren. Die Einrichtung unterstützt junge Menschen aus der Region, die in Regelschulen oder Ausbildungsbetrieben ihre zweite Chance bereits vertan haben. Die Jugendbildungsstätte ist spezialisiert auf das Reparieren von Segelflugzeugen.

Alexander Willberg sitzt mit einer Frau in einem Segelflugzeug, ein Mann steht daneben.
Alexander Willberg mit zwei Schülern der Produktionsschule am Flughafen Lübeck. Quelle: Hanna Lenz

Sozialpädagoge Willberg, blau-weiß geringeltes Poloshirt, schwarzes Basecap, freundliche Augen, stellt sich außer Hörweite seiner Schützlinge. „Wir versuchen, die jungen Leute in Richtung Ausbildung zu bekommen, wo alle anderen vorhergesagt haben: Is nich!“ Klar ist: Beim Fliegen muss sich einer auf den anderen verlassen können, sonst droht Ungemach. Alexander Willberg: „In 400 Meter Höhe buchstabiert man Verantwortung anders als am Boden.“

Portrait von Alexander Willberg. Er trägt eine graue Schirmmütze sowie eine runde Sonnenbrille und lächelt.
Alexander Willberg, Ausbildungsleiter und Geschäftsführer der Produktionsschule Ratzeburg. Quelle: Hanna Lenz

Wir kümmern uns um jeden

Dass Tim und Lena heute dem Himmel ein Stück näher waren, haben sie Ulrich Elsweier zu verdanken. Der 59-Jährige leitet das Jobcenter Herzogtum Lauenburg und hatte vor zehn Jahren die Idee für die Produktionsschule: „Aufgeben gilt nicht, wir kümmern uns um jeden“, erinnert er sich an seinen damaligen Startimpuls. Sein Jobcenter und das Land Schleswig-Holstein bezuschussen die Einrichtung. „Abbau von Bildungsdefiziten, die Schulmüdigkeit überwinden“, umreißt er den Ansatz. Und fügt nicht ohne Stolz hinzu: „Das ist schon ein Leuchtturmprojekt, das wir hier im Land haben.“

Ulrich Elsweier steht an einem weißen Segelflugzeug, in dem Alexander Willberg sitzt.
Jobcenterchef Ulrich Elsweier verfolgt am Flughafen Lübeck die Aktivitäten der nahegelegenen Produktionsschule Ratzeburg. Quelle: Hanna Lenz

Elsweiers Team sitzt unweit des Möllner Bahnhofs in einer modernen Gebäudemelange aus Alt und Neu, Weiß und Braun; der neueste, kubische Zubau in sachlichem Blau-weiß dient dem Innendienst. Elsweier kann sich für die Architektur seines Jobcenters von Herzen begeistern. Er zeigt mit dem Finger den Flur im Erdgeschoss hinunter: „Links alles auf Linie, aber sehen Sie mal rechts, wie die einzelnen Gebäudeelemente verspringen und auch farblich abgesetzt sind.“ An den Wänden hängen hübsche Grafiken, die der studierte Verwaltungswirt für zehn Jahre geleast hat.

Blick in einen Gang mit vielen Türen sowie roten und gelben Farbakzenten.
Innenarchitektur und Farbgebung des Jobcenters wurden mit Bedacht konzipiert. Quelle: Hanna Lenz

Eine bauliche Besonderheit des Jobcenters ist die Eingangszone, die nämlich gar keine ist. „Wir haben einen Counter, der den freien Zugang der Kundinnen und Kunden steuert. Wir nennen das Ganze auch Y-Modell“, erklärt Elsweiers Stellvertreter Olaf Berling. „Da werden Kurzanliegen geklärt, zum Beispiel das Vorgehen nach einer Mieterhöhung.“ Die Lobby bietet den Besucherinnen und Besuchern einen Kopierer und einen großen Informationsbildschirm. Zusätzlich liegen Stellenangebote mit Barcodes aus, die per Smartphone eingescannt werden können. Benachbarte Jobcenter haben sich schon für die etwas andere Form des Eingangsbereichs interessiert und die Örtlichkeit besucht.

Sind Sie Sadist oder Masochist?

Das Jobcenter Herzogtum Lauenburg erregte im vergangenen März allerdings nicht durch sein Y-Modell bundesweit Aufsehen, sondern durch eine Reportage des evangelischen Magazins Chrismon. Im Fokus des Portraits stand Elsweiers Kollege Bernd Steinheimer, Teamleiter Markt und Integration. Es ging um das berufliche Selbstverständnis von Jobcenter-Beschäftigten, der provokante Untertitel lautete: „Sind Sie Sadist? Oder Masochist?“

Portrait von Bernd Steinheimer. Er hat einen runden Kopf, braun-graue Haare unt träg eine braune runde Brille.
Bernd Steinheimer, Teamleiter Markt & Integration, war nach einem Zeitschriftenporträt deutschlandweit Medienthema. Quelle: Hanna Lenz

Vier Monate später schüttelt Bernd Steinheimer noch immer den Kopf über Vehemenz und Vielschichtigkeit der Resonanz. „Viele Leser waren begeistert und haben mir gedankt. Es ging sogar soweit, dass manche von ihnen einen Rat für ihre persönliche Jobsuche wollten“, sagt der gebürtige Franke. Auf der anderen Seite gab es auch irritierende Zuschriften; Leser behaupteten, das Portrait eines Jobcentermitarbeiters, der sich seit zwölf Jahren neben seiner Arbeit ehrenamtlich um eine Familie kümmert, sei erfunden. „Denen habe ich nur ganz kurz geantwortet: Wenn Sie dieser Meinung sind, dann werde ich das nicht ändern können.“ Steinheimer reflektiert das Erlebte mit fester, sanfter Stimme, die einem Vertrauen einflößt und die Gewissheit, dass dieser Mann Probleme auf ruhige und sachliche Art löst.

Vier Personen sitzen vor einem Haus an einem Tisch und sprechen miteinander.
Jobcenter-Beschäftigte tauschen sich auf der Hausterrasse zu aktuellen Themen aus. Quelle: Hanna Lenz

Das Chrismon-Portrait, das seinen Ursprung in einem ausführlichen Leserbrief Steinheimers hatte, provozierte nicht nur Leserzuschriften, sondern löste auch institutionelle Reaktionen aus. Die Bundesagentur für Arbeit verlinkte den Bericht im bundesweiten Intranet, die Huffington Post verfasste einen Nachfolgeartikel, das RTL-Nachtjournal fragte einen Beitrag an, Detlef Scheele schaute vorbei, im Frühling lud die Leopoldina Halle, eine der ältesten Wissenschaftsakademien der Welt, zur Podiumsdiskussion. Aus diesem Abend wiederum generierte das Puppentheater Halle ein Theaterstück, das im Herbst aufgeführt wird. „Da möchte ich gern hin“, sagt der 54-Jährige lächelnd, „ich hoffe sehr, dass ich das einrichten kann.“

Wir haben Ansprüche an uns und unsere Kundinnen und Kunden

Zurück ins Heute, Gesprächsrunde auf der Terrasse des Jobcenters. Das Herzogtum Lauenburg − südlichster Landkreis von Schleswig-Holstein im grünen Seenland zwischen Hamburg, Lübeck und Mecklenburg − schreibt mit vielen kleinen und mittelständischen Unternehmen aktuell gute Konjunkturdaten, was sich positiv auf den Arbeitsmarkt auswirkt. Gerhard Naucke, Bereichsleiter Markt und Integration, bilanziert: „Wir haben einen sehr statischen Arbeitsmarkt in der Region, im Positiven wie im Negativen. Das heißt, ein Boom kommt verspätet hier an, eine Krise aber auch.“ Und er wirft einen Gedanken ein, der als Motto für das gesamte Sozialgesetzbuch taugen würde: „Wir haben Ansprüche an uns, und wir haben Ansprüche an unsere Kundinnen und Kunden.“ Geschäftsführer Elsweier nickt: „Jeder, der ein Stück weit motiviert und interessiert ist, der bekommt hier Arbeit.“

Portrait von Will Kunden. Er hat ein längliches Gesicht, graue Haare und einen grauen Bart.
Will Kunden fördern und fordern: Gerhard Naucke, Bereichsleiter Markt & Integration Quelle: Hanna Lenz

Derzeit betreuen seine 174 Beschäftigten an vier Standorten 6.700 Bedarfsgemeinschaften, das sind etwas über 9.000 Leistungsberechtigte.
Darunter sind natürlich auch (Langzeit-)Arbeitslose, die aufgrund ihrer schwierigen Lebenslagen und komplexen Vermittlungshemmnissen besondere intensive Betreuung brauchen. „Wir haben seit Jahren ein beschäftigungsorientiertes Fallmanagement für diese Kundengruppe“, erklärt Elsweier, „und sehr früh in die Fortbildung der dortigen Kolleginnen und Kollegen investiert. Weil wir schnell merkten, dass wir hier einen langen Atem brauchen.“

Portrait von Ulrich Elsweier. Er hat ein ovales Gesicht, graue Haare und eine schwarze rechteckige Brille.
Ulrich Elsweier ist seit 2005 Geschäftsführer des JC Herzogtum Lauenburg. Quelle: Hanna Lenz

Anders läuft die Vermittlung bei den sogenannten marktnäheren Kundinnen und Kunden. Hier loten bewerberorientierte Arbeitsvermittlerinnen und -vermittler mit geringerem Betreuungsschlüssel aus, über welche Kompetenzen jemand verfügt. Die Spezialisten haben meist sofort eine Vermittlungsidee, wissen, ob jetzt individuelles Coaching oder eine Qualifizierung das bessere Werkzeug ist. „Wir kennen die Bewerber, sehen jede und jeden mindestens einmal im Monat, manchmal sehr viel öfter, profilen sie, schauen, was sie gut können, und suchen dann das Stellenangebot oder den passenden Arbeitgeber“, erklärt Steinheimer das Rezept für die Vermittlungserfolge. „Da haben unsere Kolleginnen und Kollegen auch die nötigen Kontakte aufgebaut, und in Kooperation mit dem Arbeitgeberservice läuft das aus meiner Sicht richtig gut.“

Vereinbarung zwischen Jobcenter und Kommune

Größtes strukturelles Problem der Region ist die Mobilität, speziell von Alleinerziehenden, aber auch von Bewohnern kleinerer Gemeinden. Das Jobcenter hat einen Topf für Fahrtkostenzuschüsse und Fahrzeugdarlehen. Sogar ein Führerschein kann gefördert werden, wenn ein Arbeitsvertrag in Aussicht steht, für den ein eigenes Fahrzeug zwingend notwendig ist − etwa im Wachgewerbe mit Dreischichtbetrieb.

Eine Werkstatt mit roten Tischschraubstöcken und blauer Doppelschleifmaschine.
Ein Blick in die Metallwerkstatt der Produktionsschule Ratzeburg, die vom Jobcenter gefördert wird. Quelle: Hanna Lenz

Durch die Flucht- und Asylthematik stellten sich dem Jobcenter vor zwei Jahren ganz neue Herausforderungen, Elsweier nennt die Zahl von 1.600 zusätzlichen Kundinnen und Kunden innerhalb weniger Monate. Neben sprachlichen, beruflichen und gesundheitlichen Problemen haben diese Menschen auch mit den Tücken der deutschen Bürokratie zu kämpfen. Das Jobcenter stellte speziell geschultes Personal ab, baute ein funktionierendes Netzwerk mit fast zwanzig Partnern im Landkreis auf, schob die Öffentlichkeitsarbeit in den Gemeinden an, schickte Sprachmittlerinnen und -mittler in die Brennpunkte, lud Ehrenamtliche ein. Besonders zufrieden ist Berling mit einer Sondervereinbarung zwischen Jobcenter und Kommune, um den Übergang anerkannter Flüchtlinge in den Rechtskreis SGB II zu gestalten. Da gäbe es andernorts oft einen Bruch in den Zahlungen, weil die Kommune ihre Leistungen einstelle, das Jobcenter aber noch nicht soweit sei. „Das ist uns sehr gut gelungen, und das hilft auch den Ehrenamtlichen bei ihrer Arbeit“, freut sich Olaf Berling auch in seiner Funktion als Bereichsleiter Regelleistung.

Praktikable Insellösungen

Die Geschäftsführung zeigt sich auch andernorts flexibel, nichts wird nach Schema F entschieden. So betreut am größten der vier Standorte eine Kollegin alle schwerbehinderten Kundinnen und Kunden in der Region, mehrere Kollegen kümmern sich um die Kundengruppe 55 plus, wieder andere um die jungen Menschen bis 25. „Wir lassen unseren Beschäftigten viele Freiräume für ihre Entscheidungen hinsichtlich der Kundschaft“, fasst Ulrich Elsweier die Politik seines Hauses zusammen. „Unsere verschiedenen Standorte sind zwar nicht autonom in ihren Entscheidungen, aber sie schaffen praktikable Insellösungen. Jede Region hat ihre Spezifika, die man berücksichtigen muss, für jede bieten sich andere Programme an. Unter Umständen kann das sogar einen Hausbesuch bei der Kundin oder beim Kunden beinhalten.“ Auch in Weiterbildung, Supervision und Coaching sowie in Engagement-Befragungen der Teams wird viel Zeit investiert. Elsweier berichtet: „Gerade haben wir ein dreiteiliges Feedback abgeschlossen. Wie unsere Beschäftigten ihre Führungskraft sehen: Werden ihre Wertvorstellungen und Ziele auch gesehen und gelebt?“

Portrait von Olaf Berling. Er hat ein herzförmiges Gesicht, graue Haare und eine schwarze Brille.
Olaf Berling, Bereichsleiter Regelleistung und stellvertretender Geschäftsführer, freut sich über eine Sondervereinbarung zwischen Jobcenter und Kommune. Quelle: Hanna Lenz

Ein wichtiger Etappensieg für die gute Binnenkooperation war die Zusammenführung von kommunalen und Beschäftigten der Bundesagentur für Arbeit. „Es war am Anfang wie der Turmbau zu Babel“, schmunzelt Geschäftsführervize Berling. „Wir hatten alle dasselbe Ziel, aber nicht dieselbe Sprache. Der eine hatte Abkürzungen, die der andere nicht verstanden hat.“ Bis heute frotzeln die Kolleginnen und Kollegen: „Ich kann das nicht wissen, ich bin ja nur Kommunaler.“

„Open end“ läuft hoffentlich die Zusammenarbeit des landesweit wohl dienstältesten Geschäftsführer-Stellvertreter-Pärchens: Ulrich Elsweier und Olaf Berling sind seit 2005 beruflich verbandelt. Man merkt schnell, da haben sich zwei gesucht und gefunden. Elsweier: „Wir gehen auch privat zum HSV.“ Berling: „Obwohl er Schalke-Fan ist.“

* Namen von der Redaktion geändert