Stellen Sie sich vor, Sie sind Unternehmer, und Sie stoßen auf diese Anzeige: „Gibt es Arbeiten in Ihrem Betrieb, die sinnvoll wären, aber unwirtschaftlich?“ Seit Anfang 2019 gibt es das neue Teilhabechancengesetz mit zwei Förderungen – darunter „Teilhabe am Arbeitsmarkt“ nach § 16i SGB II. Diese Förderung ermöglicht es, die in der Anzeige beschriebenen Stellen zu schaffen. Es geht um neu geschaffene Tätigkeiten, die zuvorderst die Stärken der Menschen abrufen sollen. Die Förderung will, wie ihr Name sagt, Teilhabe ermöglichen. Dies ist jedoch kein Selbstläufer. Denn hier werden nicht gesuchte Fachkräfte auf freie Stellen gebracht, sondern sehr arbeitsmarktferne Menschen mit multiplen Vermittlungshemmnissen auf zum Teil neu geschaffene, sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze.
Mehr Wertschätzung durch längerfristige Beschäftigung
„Auf den ersten Blick ist § 16i nichts Neues, es ist ein Lohnkostenzuschuss wie andere auch“, konstatiert Karsten Böhmke, Geschäftsführer des Jobcenters Kiel. „Aber: Die Idee, passive Leistungen umzuwandeln in Lohn, die ist gravierend, die ist ein Paradigmenwechsel.“ Im Gegensatz zu vorigen Instrumenten beinhalte § 16i SGB II eine klare Wertschätzung „des Marktes, der Arbeitgeber und auch des betreuenden Jobcenter-Teams“. Böhmke machte das Gesetz zur Chefsache und schaute, wie die Resonanz im gesamten Kieler Netzwerk aussah. An den sieben Jobcenter-Standorten wurden Leistungsbeziehende gefragt, ob sie sich eine Teilnahme vorstellen könnten. Ab Mitte 2018 verwandelte man bereits die Eckpunkte des Gesetzentwurfs in Flyer für Werbeveranstaltungen und informierte erstmals die Arbeitgeber-Verbände. Die ersten Gespräche bei potentiellen Arbeitgebern fanden ebenfalls schon im Sommer 2018 statt.

Während Böhmke durchaus damit rechnete, dass Arbeitgeber auf das Modell eingehen, überraschte ihn die sofortige und deutliche Akzeptanz durch die Arbeitsuchenden. „Das muss mit dem Geist des Gesetzes zusammenhängen, mit dem „Ich-werde-gebraucht“. Die meisten Menschen wollen soziale Teilhabe, die meisten Eltern wollen ihrem Kind erzählen, Papa oder Mama gehen jeden Tag zur Arbeit.“ Bislang gibt es in Kiel kaum Abbrecher, die Förderung ist überaus erfolgreich. Sehr viele Über-50-Jährige haben die Chance ergriffen. „Manche Menschen haben jetzt nach 15 Jahren die erste richtige Arbeitsstelle“, freut sich der Jobcenterchef.
Das Jobcenter KielIm Jobcenter Kiel, einer gemeinsamen Einrichtung der Agentur für Arbeit und der Landeshauptstadt, wirkt seit Dezember 2018 das neugeschaffene 16i-Team „MitArbeit“, das in einem eigenen Büro unweit des Kieler Sozialzentrums Gaarden seinen Sitz hat. Für seine Ziele entwickelte das Team ein Instrumentarium, zum Beispiel ein digitales Bewerber-Screening, bei dem Teilnehmende die Möglichkeit erhielten, sich auf einer Internet-Plattform den Arbeitgebern in Wort, Ton und Bild zu präsentieren. Viele Kieler Arbeitgeber haben eine Absichtserklärung unterschrieben, die neuen Stellen auch über die Laufzeit der jeweiligen Vereinbarung hinaus zu sichern.
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Böhmkes Amtskollege in Münster ist Ralf Bierstedt. Auch er bewertet den neuen Vorstoß positiv: „Mit dem Teilhabechancengesetz wurde genau der richtige Weg eingeschlagen. Jetzt haben wir erstmals die Chance, motivierten Menschen trotz langer Arbeitslosigkeit den ersten Schritt in die Arbeitswelt zurück zu ermöglichen und dies intensiv und nachhaltig zu begleiten.“ Auch Bierstedt begann frühzeitig im Jahr 2018 mit strukturellen und operativen Überlegungen. Dabei entschied er sich gemeinsam mit seinen Kolleginnen und Kollegen für eine Umsetzung durch einen zentralen Bereich im Hause, der auch Teile des Coachings wahrnimmt. „Das war sicher ein Grund mit dafür, dass wir schon kurz nach Inkrafttreten des Gesetzes in der Lage waren, erste Beschäftigungsverhältnisse ins Leben zu rufen“, resümiert der Jobcenterchef. Angetan ist er auch davon, dass es durch den Wegfall der drei Kriterien – öffentliches Interesse, Wettbewerbsneutralität und Zusätzlichkeit – mehr operative Möglichkeiten für Beschäftigungen auf dem freien Markt gibt.
Münsteraner Team für den gesamten Sozialen Arbeitsmarkt
Zwischen den beiden Jobcentern in Kiel und Münster liegen circa 350 Kilometer − und ein entscheidender struktureller Unterschied. Während in Kiel ein sechsköpfiges § 16i-Team mit eigener Büroeinheit gebildet wurde, deichseln die Münsteraner die zusätzliche Arbeit innerhalb des gängigen Gefüges. „Wir sind hier in Münster insgesamt 13 Kollegen, deren Aufgaben sich zum Teil überschneiden, zum Teil ergänzen“, erläutert Fachstellenleiter Simon Pietschmann. „Wir sind sowohl arbeitgeber- als auch kundenseitig ausgerichtet. Beide Fraktionen arbeiten eng zusammen.“ Was früher Arbeitgeber- und Vermittlungsservice hieß und beispielsweise auch Ausbildungsplatzvermittlung beinhaltete, ist jetzt fokussiert auf die beiden Förderungen des Teilhabechancengesetzes − § 16e und § 16i SGB II − und nennt sich „Kommunales Service-Center für Arbeit beim Jobcenter Münster“. Das Team betreut damit den gesamten Sozialen Arbeitsmarkt. § 16i SGB II ist hier also ein Baustein. Derzeit steht das neue Gesetz im Hauptfokus von Pietschmann und nimmt ihn nach eigenen Worten „voll und ganz in Anspruch“.

Die Umsetzung des Teilhabechancengesetzes erfolgte in aufeinander aufbauenden Schritten. Der Fachstellenleiter beschäftigte sich zunächst mit den inhaltlichen Anforderungen und agierte dann „als Multiplikator meiner Mannschaft“. Es galt, die konkreten Ziele zu bestimmen und ein Procedere zu entwickeln, „um passende Bewerber auf passende Arbeitsstellen zu bringen“.
Im Kieler § 16i-Team macht jeder alles
Pietschmanns Pendant in Kiel heißt Marco Lübker, er leitet dort das neugeschaffene § 16i-Team „MitArbeit“. Der 44-jährige Betriebswirt erinnert sich noch gut an die ersten Wochen nach Bekanntwerden des Gesetzes: „Wichtig war, die Erwartungen abzuklopfen: die des Teams, die der Geschäftsleitung, um hier auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen.“
Die sechs Fachkräfte waren von dem Teilhabechancengesetz sofort begeistert. Am Anfang wurde der gegenseitige Wissensstand abgeglichen, dann ging es um die potenziellen Teilnehmenden: ein Profiling wurde durchgeführt. Die Kolleginnen und Kollegen hatten einen Riesenpool an geeigneten Leistungsbeziehenden und interessierten Arbeitgebern, aber noch gar keine Antragsunterlagen. Das ermöglichte ein fast papierloses Arbeiten. Inzwischen sind aber alle notwendigen Unterlagen verfügbar. Etwa sechs Wochen braucht das Team, um einen neuen Fall abschließend zu bearbeiten.
Untereinander gibt es keine Spezialisierung, alle machen alles. Die Fachkräfte, die sich intern „Kümmerer“ nennen, schätzen es, Menschen auf kreative Art und Weise und individuell zu unterstützen. „Wir können rausgehen zu den Arbeitgebern, wann immer da Bedarf ist, das können wir selber frei gestalten, ohne Sprechzeiten oder langfristige Terminierungen“, sagt Marco Lübker. Auch inhaltlich werde der weiter als üblich gesteckte Rahmen positiv gesehen. „Wir haben mit § 16i eine viel freiere Hand, was die Förderungsmöglichkeiten angeht, davon profitieren die Teilnehmer, davon profitiert unser Team.“

Klassisches Matching unerwünscht
Diese freie Hand wurde und wird in Kiel kreativ genutzt. Wichtig ist das gegenseitige Informieren bei den regelmäßigen Fallbesprechungen. Wie beim Domino werden hier Anknüpfungspunkte gesucht, welche Jobs und welche Teilnehmenden eventuell zusammenpassen. Es sind bewerberorientierte Gespräche „der anderen Art“ − kein klassisches Matching. Das beinhaltet, so Marco Lübker, „dass wir die Teilnehmer an die Hand nehmen, mit ihnen zum Arbeitgeber gehen, das ist hochindividuelle Einzelarbeit. Aber es ist auch sehr sinnvoll, denn wir kennen viele Arbeitgeber persönlich. Das können wir natürlich nicht mit allen Arbeitsuchenden so machen, aber wir versuchen es mit so vielen wie möglich.“ Dabei behalten die Mitarbeitenden das Gegenüber im Blick: „Wir fragen uns: Worauf haben die potentiellen Teilnehmenden Lust, wie kann man die Motivation, etwas tun zu wollen, herauskitzeln? Wie finden wir dafür die passenden Arbeitgeber? Wir fragen die Menschen, was deren Hobbys sind, gibt es ein Ehrenamt − gar nicht mal so sehr, ob oder was sie gelernt haben.“

Also Vertrauen aufbauen, herausfinden, was die Person kann und möchte, und sei es der eigene Schrebergarten. Einmal kam ein 49-jähriger Mann ins Büro – keinerlei Berufsausbildung, ganze sieben Monate seines Lebens hatte er sozialversicherungspflichtig gearbeitet − und jetzt hat er eine Vollzeitstelle als Hausmeister. Sowas schafft man nur, wenn man Zeit hat, dem Menschen wirklich in die Augen zu gucken und ihn individuell zu beraten. Neben diesen Beispielen vom allgemeinen Arbeitsmarkt gibt es auch Vermittlungen an soziale Träger und Bildungsträger; das Grünflächenamt der Landeshauptstadt Kiel und die Kieler Schulen haben Leute eingestellt, weil es eigentlich überall an Personal mangelt. Der Erfolg in Zahlen: Von den circa 800 in Frage kommenden Personen zeigten sich 573 interessiert, 305 waren bis November vermittelt − Zielgröße bis Ende 2019 war 300 Vermittlungen.
Erfahrungswissen lässt sich nicht speichern
Auch in Münster hat man einen geschärften Blick für die Zielgruppe. „Wir haben es hier mit Menschen zu tun, die oft gescheitert sind“, führt Simon Pietschmann aus. „Die haben sicherlich eine Grundmotivation, aber wenn es ernst wird mit einer Stelle, dann haben sie oft Angst vor Frust, vor erneutem Scheitern. Da müssen wir helfend und mutmachend zur Stelle sein.“
Was hilft: Während der Förderung ist die wöchentliche Arbeitszeit nach oben wie nach unten anpassbar. Nichts ist in Stein gemeißelt. Auch Praktika sind ein Mittel, um sich in einer völlig neuen Branche auszuprobieren. Manche Teilnehmenden sind dann völlig überrascht, wie gut sich eine Tätigkeit − zum Beispiel im Pflegebereich − für sie anfühlt, an die sie vorher nicht im Traum gedacht hätten. Nach so vielen Jahren der Arbeitsmarktabstinenz ist dies ein hervorragender Weg in ihn hinein. Manche kramen gar ihre Berufswünsche aus Kinderzeiten hervor.
„Im Idealfall würde jeder Jobcoach seinen potentiellen Teilnehmer kennen und den dazu passenden Arbeitgeber und die beiden zusammenbringen“, sagt Pietschmann. „Das ist schlechterdings unmöglich, und deshalb muss man dieses verstreute Wissen organisieren. Das passiert fast immer im direkten, wie ich es nenne, Übergabegespräch: Mein Mitarbeiter spricht sowohl mit dem Jobcoach als auch mit dem potentiellen Teilnehmer, zum Beispiel über dessen Erwartungen. So lassen sich die vorliegenden Profilinformationen mit Leben füllen und Missverständnisse im Vorhinein verhindern.“

Simon Pietschmann übt bei alldem die Fachaufsicht aus, schätzt ein, ob die Abläufe formal richtig sind, kümmert sich um die Planungen des Amtsleiters. 120 Vermittlungen wurden fürs laufende Jahr angepeilt, 104 bis November 2019 erreicht, aus theoretisch über 2.000 Kandidatinnen und Kandidaten. „Da reicht es nicht, dass die formalen Kriterien übereinstimmen“, sagt der 40-Jährige. „Sie müssen die Teilnehmer kennen, sie müssen sie einschätzen können: Themen der Familie, der Gesundheit, der Überschuldung spielen hier rein. Von den 2.000 kommen nach unserer Einschätzung akut nur 300 infrage. Viele der anderen Menschen benötigen noch weitere Unterstützung. Wir wollen ja nachhaltige Lösungen.“
Das Jobcenter MünsterDas Jobcenter Münster agiert in kommunaler Trägerschaft und ist für die Gestaltung des sozialen Arbeitsmarktes zuständig. Es hatte sich schon zuvor am Europäischen Programm zum Abbau von Langzeitarbeitslosigkeit beteiligt, bestehende Förderungen aus dem Bundesprogramm Soziale Teilhabe wurden nahtlos weitergeführt. § 16i SGB II hilft, diesen Weg zu verstetigen. So stellt die Kommune beispielsweise eigene Mittel für die Förderung von Leistungsberechtigten bereit, die die formalen Voraussetzungen von §16i nicht komplett erfüllen, aber im Sinne des Gesetzes trotzdem gefördert werden sollten.
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Handarbeit statt Massengeschäft
Arbeitnehmer brauchen Arbeitgeber, das ist auch beim Teilhabechancengesetz nicht anders. „Es wurde frühzeitig eine Arbeitsgruppe mit der Geschäftsführung initiiert, mit der wir in unseren bestehenden Pool geguckt haben mit der Frage: Welche Arbeitgeber haben das Potential, hier mitzumachen“, erinnert sich der Münsteraner Pietschmann. „Für sie gab es Informationsveranstaltungen und Anschreiben, um ihnen Appetit zu machen. Wir haben das alles aber sehr dosiert getan, um die Erwartungshaltung nicht künstlich hochzutreiben. § 16i SGB II ist kein Massengeschäft, jede Vermittlung hier ist ein handgefertigtes Designerstück.“

Nicht alle Arbeitgeber sind für die Förderung nach § 16i SGB II gleichermaßen geeignet, denn hier wird mehr benötigt als nur eine freie Stelle: Es braucht soziale Verantwortung, mitunter gar eine Art Fürsorgewillen und die Bereitschaft, Menschen nicht nur als Kostenstelle zu sehen. Die neuen Arbeitskräfte müssen eingearbeitet werden, das verursacht erstmal Aufwand. In diesem Punkt scheinen die kleineren Münsteraner Arbeitgeber offener als die großen: der Sportverein um die Ecke, Callcenter, Einzelhandel, Gärtner, Lager und Logistik, Hausmeistereien, Handwerk. Auch die Stadt hat Arbeitsplätze geschaffen.
„Unsere Erfahrung ist, dass Arbeitgeber das Gesetz nutzen, um Fachkräfte zu entlasten“, erklärt Pietschmann. „Die Tätigkeitsprofile werden daraufhin nochmal genau angeschaut.“ Das ist natürlich oft sehr branchen- und auch arbeitgeberspeziell. Und die Tücke liegt im Detail. Im Museum muss man viel stehen, beim Wachschutz viel laufen − das sind keine hohen Qualifizierungshürden, aber körperliche Vorbedingungen, die nicht jeder Teilnehmende mitbringt.
Win-win-Situation für alle Seiten
Wie geht das Jobcenter Kiel auf potentielle Arbeitgeber zu? „Wir reden Tacheles mit allen Seiten“, erklärt Marco Lübker. „Wir sagen dem Arbeitgeber, was vorkommen kann im Gegensatz zu anderen Kundengruppen. Wir machen ihm klar, welch hohe soziale Verantwortung er hier übernimmt.“ Vielfältige bereits bestehende Arbeitgeberkontakte werden jetzt auch für § 16i genutzt, dazu kommen gezielte Ansprachen. Das Jobcenter Kiel ist mit den Arbeitgebern der Region sehr gut vernetzt. Zwei Drittel der Kontakte für den § 16i-Pool entstehen über diese Verbindungen. Das restliche Drittel Kontakte kommt zustande, weil die Arbeitgeber von dem Teilhabechancengesetz gehört haben und auch aktiv ans Jobcenter herantreten. Alle Branchen und Größen sind vertreten: Zwei-Mann-Unternehmen, kleine und mittelständische Unternehmen, Großfirmen, Pflegeeinrichtungen. Hinzu kommen kleinste Firmen, die durch das Gesetz die Chance sehen, jemanden einzustellen, ohne selber wirtschaftlich schon abschätzen zu können, ob sie ein weiteres Gehalt zahlen können − eine Win-win-Situation für beide Seiten.

Ein gutes Beispiel ist die Lütt Immobilien GmbH. Die Firma hat Geschäftsführerin Astrid Lütt zufolge über das Teilhabechancengesetz „endlich die Hausmeisterei integrieren können“. Als die Anfrage vom Jobcenter kam und ihr die neue Förderung erklärt wurde, sah Astrid Lütt „sofort die Möglichkeit, mit den Menschen vor Ort etwas Neues aufzubauen, neue Stellen zu schaffen in Bereichen, die wir uns unter dem Blickwinkel noch nicht angeguckt hatten, als Ergänzung zum Bestehenden.“ Zwei Tage später wurde es konkret: ein potentieller Mitarbeiter war gefunden. Zwei weitere folgten, der vierte begann im Sommer ein Praktikum. Was genau tun die Neuen? „Die Leute haben letztens eine Küche eingebaut, sie haben Gartenbeschnitt gemacht, sie fahren rum und kontrollieren regelmäßig die Objekte, sie helfen bei Umzügen.“
Lütt weiß Bescheid über die Besonderheiten der Klientel. „Da stehen manchmal Alkohol und Drogen im Raum, Krankheit, Verluste − die Leute waren jahrelang weg vom Arbeitsmarkt, da muss ich erstmal richtig Aufbauarbeit leisten.“ Sie sieht die neuen Mitarbeitenden fast täglich und bringt ihnen en passant die Regularien der Arbeitswelt bei. „Wir treffen uns morgens und machen erstmal Einsatzplanung: Wer geht hierhin, wer geht dahin. Das sind sehr engagierte Leute, ich bin richtig begeistert.“ Die 46-Jährige sieht sich an der Stelle weniger als gewinnorientierte, denn als sozial denkende Arbeitgeberin. „Wir stehen alle unter wirtschaftlichem Druck. Umso schöner ist es, wenn wir trotzdem die Möglichkeit haben, jemandem zu helfen und ihm Anerkennung zu geben.“
Im permanenten Austausch mit dem Jobcenter
Neben Arbeitgebern sind auch Netzwerkpartner bei der Umsetzung der neuen Förderung nach § 16i SGB II beteiligt. In Münster ist das beispielsweise „Chance e.V.“. Seit 30 Jahren laufen hier Projekte zur Arbeitsmarktintegration mit Haftentlassenen, Langzeitarbeitslosen und Geflüchteten. „Chance“ macht das vorgelagerte Coaching, das heißt, es wird geschaut, welche Voraussetzungen die Teilnehmenden mitbringen, welche Interessen sie haben, wo sie hinwollen, welche Arbeitgeber dafür bereitstehen. Adriana Kerkgeers-Moormann ist Abteilungsleiterin in der Vermittlung beim „Chance e.V.“. „Wir haben gemeinsam mit dem Jobcenter geschaut, welche Menschen sich für die neue Förderung eignen − welche Unterstützung sie brauchen, welcher Einstieg für sie optimal ist“, sagt die Diplom-Sozialpädagogin. Von Januar bis August fanden über 70 Informationsgespräche statt, knapp 50 mündeten in Coachings ein, zehn Menschen fanden anschließend Arbeit, aktuell vor allem Tätigkeiten in der Pflege − eine gute Quote, wenn man die schwierige Ausgangslage bedenkt.

„Chance e.V.“ steht im permanenten Austausch mit dem Jobcenter. Während letzteres eher den Draht zu den Arbeitgebern hat, kümmert sich der Verein enger um die Teilnehmenden. „Da sind stellenweise Riesenängste bei den Menschen, die ja sechs Jahre und mehr arbeitslos gewesen sind und die in der Zeit hunderte von Absagen bekommen haben“, sagt die Diplom-Sozialpädagogin. Die Schritte sind: Vertrauen aufbauen mit niedrigschwelligen Angeboten, keine überhöhten Erwartungen stellen, die Teilnehmenden ernst nehmen, Schritt für Schritt zusammen gehen, sie auffangen bei Krisen. Keine Strohfeuer anzünden, sondern nachhaltig denken. Das erfordert einen langen Atem der Beteiligten. Es passiere ja nicht einfach so, dass jemand so lange ohne Job sei. Adriana Kerkgeers-Moormann: „Das können äußere Gründe sein, oder Gründe, die aus den Menschen selbst kommen. Und das lässt sich nicht in zwei, drei Gesprächen auflösen. Der für § 16i vorgesehene Förderzeitraum von fünf Jahren eröffnet die Möglichkeit, dass Beschäftigte sich auch selbst stabilisieren können.“

Coaching gegen Stolpersteine
Oft sind es ganz banale Dinge, die den Erfolg gefährden. Sei es der unvollständige Impfpass oder ein fehlendes Führungszeugnis. Gelegentlich mangelt es schlicht an Pünktlichkeit. Hier hilft meistens die persönliche Begleitung − ein Coaching −, um einen Abbruch des Arbeitsverhältnisses zu vermeiden und Stolpersteine frühzeitig auszuräumen. Aber auch die Arbeitgeber bekommen durch das Coaching Unterstützung.
In Münster wurden Teile des Coachings im Rahmen einer Ausschreibung Anfang 2019 auf dem Markt platziert, von Anfang an existierten dort also internes und externes Coaching nebeneinander. Das interne hat den Vorteil, dass sich alle kennen und bereits Erfahrungen vorliegen, falls Konflikte auftreten. Das hier über Jahre gewachsene Vertrauensverhältnis zwischen Teilnehmenden und Jobcenter-Mitarbeitenden ist unschätzbar wertvoll. „Die Menschen wünschen sich oft vertraute Ansprechpartner, von denen sie im Jobcenter vielleicht schon jahrelang begleitet werden. Deswegen wird hier fast immer das interne Coaching gewünscht“, resümiert Simon Pietschmann. „Leider geht das ressourcenbedingt nicht in allen Fällen.“ Für Teilnehmende, die sich in den Räumlichkeiten des Jobcenters unwohl fühlen, bieten Pietschmanns Leute auch unorthodoxe Begegnungsorte an: „Das kann beim Arbeitgeber sein, das kann aber auch der Spaziergang auf der Promenade oder das Café sein.“

Die Kümmerer von Kiel haben das Coaching bis Mitte 2019 komplett über eigenes Personal angeboten, dann kamen im Zuge einer Ausschreibung externe Coaches eines Trägers dazu. Und das bewährt sich. Manche persönlichen Dinge, derer sich der externe Coach annimmt − Schulden, Wohnungsprobleme, Drogenfälle etwa −, dringen gar nicht ins Jobcenter, und das ist durchaus so gewollt. „Unser Ziel bei der Rekrutierung externer Coaches war eine dritte Instanz, die mit einem eigenen Blick auf die Dinge, einem anderen Status auftritt als wir“, erläutert Marco Lübker. Und ganz egal in welcher Form das Coaching angeboten wird: „Wir sind Hauptansprechpartner sowohl für die Teilnehmenden als auch für die Arbeitgeber. Wenn da eine Seite sagt, hier stimmt was nicht, sind wir sofort zur Stelle.“
Das weitere Ziel: Nachhaltigkeit und Stabilisierung
Ein Blick in die Zukunft: Das Teilhabechancengesetz ist auf Nachhaltigkeit ausgelegt, angestrebt wird eine Stabilisierung der Beschäftigungsverhältnisse über die Laufzeit hinaus − zum Beispiel durch Weiterbildung. Geschäftsführer Böhmke vom Kieler Jobcenter: „Das kann der Führerschein sein, das kann der klassische Gabelstaplerschein sein, das kann auch eine ganz individuelle Qualifizierung sein.“ Teamleiter Lübker ergänzt: „Es ist unsere Aufgabe, Anschlussperspektiven zu schaffen. Aber aus einer Arbeit heraus sich um eine andere Stelle zu bewerben, ist was viel Positiveres, als wenn man sich aus der Arbeitslosigkeit heraus bewirbt.“

Auch in Münster lautet das Fazit: Weitermachen, hier werden Menschen in Arbeit gebracht, die vorher keine Chance hatten! „Zwar ist die Implementierung der Regelungen zeit- und arbeitsintensiv, bindet immer wieder erhebliche Ressourcen, denn oftmals müssen Vorbehalte und Ängste bei den Leistungsberechtigten und den Arbeitgebern genommen werden“, konstatiert Jobcenterchef Bierstedt. „Insgesamt ist mir aber wichtig zu sagen: Mit den neuen gesetzlichen Regelungen ist ein wirksames Instrument zur Reduzierung der Langzeitarbeitslosigkeit ins Leben gerufen worden.“